Verschärftes Verhör
sie ihn ansehen musste. »Was ist los?«
»Nichts. Wirklich nicht. Es liegt an diesem Ort, an allem hier. Hast du keine Angst?« Das hatte sie eigentlich nicht sagen wollen, doch nun gab es kein Zurück.
Colin schüttelte den Kopf. »Wovor denn?« Es klang, als wäre ihm Angst vollkommen fremd.
Es gab so vieles, vor dem man Angst haben konnte. Vor dem Tod. Dem Schmerz. Davor, seine Menschlichkeit zu verlieren. Und sosehr sie sich auch bemühte, ihre Gefühle für Colin unter Kontrolle zu halten, würde sie von nun an auch um ihn Angst haben. Sie stand auf, ohne zu antworten.
»Ich muss jetzt gehen. Er wird sich fragen, wo ich bleibe.« Sie schaute Colin an. »Zehn«, sagte sie ein bisschen weicher.
»Wenn es geht, komme ich um zehn.« Dann trat sie hinaus in den kühlen Morgen.
Kurtz wartete vor dem Tor und schaute sie streng und ungeduldig an.
»Ich hoffe, du weißt, worauf du dich einlässt«, sagte er, als sie gemeinsam den Disney Drive entlanggingen.
Wie ein Vater mit seinem Kind, dachte Kat. »Ich kann auf mich selbst aufpassen«, stieß sie hervor.
Spanien
»Mach das nie wieder«, sagte Kat und warf Tasche und Jacke beiseite.
Kurtz hatte ein heruntergekommenes Hotel mit winzigen Betten und klaustrophobisch engen Zimmern ausgewählt. Durch die schmierigen Fenster blickte man auf die Industrieanlagen an der Küste, und im Flur gab es eine Dusche mit kaltem Wasser. Ein Stern, dachte Kat, und selbst der war gekauft. Es erinnerte sie an das Hotel, in dem sie drei Jahre zuvor die Nacht vor der Überfahrt nach Marokko verbracht hatte. Es war allerdings weiter vom Hafen entfernt gewesen, in einem schmuddeligen Viertel für Rucksacktouristen in der Nähe des Marktes.
»Was machen?«, fragte Kurtz mit gespielter Unwissenheit.
»Ich meine es ernst. Befehl oder nicht, wenn du mich noch einmal so auflaufen lässt, nehme ich den nächsten Flug nach Hause. Kapiert?«
Sie trat ans Fenster und schaute auf den Fährhafen hinaus, von dem eben das letzte Boot nach Tanger abgelegt hatte. Auf der Betonschürze des Piers parkten schon Lastwagen für die Morgenüberfahrt. Die Fahrerkabinen waren dunkel. Jenseits der Bucht erhob sich Gibraltar prächtig aus der Dunkelheit, ragte auf den narbigen, von unten beleuchteten Klippen feierlich und einschüchternd empor.
Eine verwegene Entscheidung, dachte Kat. Was könnte sie dazu bringen, in einen dieser Container zu klettern? Angst und Verzweiflung in einem Ausmaß, das sie sich gar nicht vorstellen konnte. Sie wusste nur zu gut, dass mehr Leute tot als lebendig ankamen, viel mehr. Und dann auch noch in die entgegengesetzte Richtung, entgegen jeder Hoffnung, an den Ort, von dem man unter Lebensgefahr geflohen war. Mit dem Wissen, dass man in der undurchdringlichen Dunkelheit vielleicht in ewigen Schlaf sinken würde.
Kurtz lachte freudlos. »Wie viele Leute kennst du hier?«
Kat schoss herum. Im nackten Licht des Zimmers wirkten seine Augen trüb und gleichgültig. »Soll das eine Drohung sein?«
»Nur eine Beobachtung.«
Trotz allem hatte sie bisher nie Angst vor Kurtz gehabt. Sie hatte seinen Zorn immer als Zeichen von Machtlosigkeit verstanden, hatte Mitleid und Abscheu zugleich empfunden, aber keine Angst. Plötzlich verstand sie ihn. Und fürchtete sich zum ersten Mal.
17
Vietnam 1974
Der Frühling hatte längst begonnen, bevor Harry Susan wiedersah. Fast acht Monate waren seit der Begegnung im Hotel Duc vergangen, ein bleierner Winter mit endlosen Cocktailpartys und aufwendigen Abendessen, bei denen er die nicht sonderlich diskreten Annäherungsversuche frustrierter Diplomatengattinnen abwehren musste.
In den ersten Wochen hatte Harry befürchtet, Morrow könne von dem Zwischenfall erfahren. Saigon war nicht gerade für seine Diskretion bekannt, und er schloss nicht aus, dass Susan es Morrow selbst erzählen würde. Rache machte nur dann Spaß, wenn beide Seiten wussten, was geschehen war. Morrow ließ sich jedoch nichts anmerken, und irgendwann dachte Harry nicht weiter über die Sache nach. Er begann sogar eine flüchtige Affäre mit Marta, einer Ehefrau aus der ungarischen Delegation, die unnatürlich blond war und im Bett eine geradezu teutonische Wildheit entwickelte.
Als Morrow im April telefonisch ankündigte, er werde nach Nha Trang kommen, vermutete Harry spontan, Susan habe nun doch ihre Trumpfkarte ausgespielt. Er wusste nicht, was ihn erwartete – Affären wie diese waren in ihrer Welt nicht selten und daher verzeihlich. Dennoch bereitete er sich auf
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