Verscharrt: Thriller (German Edition)
ist ein Freund. Ich hab ihn bei der Arbeit an einem Fall kennengelernt. «
» Ihrem Freund geht es nicht besonders. Er hat einen komplizierten Schädelbruch, und auch vorher war er nicht unbedingt ein Vorbild an Gesundheit. «
Es gibt nichts Schlimmeres als eine Intensivstation bei Nacht. Intensiv ist hier alles, nur nicht die medizinische Versorgung. Während O’Hara an den geöffneten Türen vorbeigeht, sieht sie gebrechliche alte Menschen alleine auf dem Rücken liegen, die Augen voller Angst aufgerissen. Auf den endlosen Gängen ist nirgendwo Hilfe in Sicht, nur gelegentlich hört man das schlaflose Schlurfen eines Hilfspflegers oder die Bohnermaschine einer Putzkraft. Intensiv sind die Stille, der bevorstehende Tod und der Geruch nach Desinfektionsmitteln, mit dem gegen Letzteren vorgegangen wird.
O’Hara sitzt auf einer Bank gegenüber dem Schwesternzimmer, sucht Paulettes Nummer und schickt ihr eine SMS . » Paulette, ich habe gerade erfahren, dass Gus in der U-Bahn überfallen wurde. Wie ist das passiert? « Aus dem Augenwinkel beobachtet O’Hara Priestly an ihrem Schreibtisch. Als die Schwester aufsteht und in den Fahrstuhl steigt, sucht O’Hara Hendersons Zimmer und schleicht sich heimlich rein. Von einem Stuhl in der Ecke aus starrt sie Gus’ bandagierten Kopf an. Er klammert sich nur noch schwach ans Leben, was sich in den ansteigenden und sinkenden Zahlen auf dem Monitor über seinem Bett widerspiegelt.
O’Hara wirft erneut einen Blick auf das Display ihres Handys. Immer noch keine Nachricht von Paulette. Eigentlich sollte sie hier sein, denkt O’Hara und wundert sich, dass sie’s nicht ist, besonders wenn man bedenkt, wie vorsichtig sie Gus’ Hand an jenem Nachmittag im Garten von ihrem Hintern entfernt hat. Wieso zum Teufel hatte sie Gus überhaupt aus den Augen gelassen? Der Mann kann sich doch kaum fortbewegen. Wie war das möglich?
Gus’ persönliche Habe liegt in einer Plastiktüte auf dem Tisch. O’Hara erkennt nichts davon wieder, und von seiner Brille fehlt jede Spur. Sie steht vom Stuhl auf und geht ans Kopfende des Bettes. Ohne Brille sieht sich Gus kaum ähnlich. Und tatsächlich ist es auch gar nicht Gus, jedenfalls nicht der Gus Henderson, den sie kennt.
O’Hara beugt sich näher an das geschundene Gesicht heran und merkt, dass sie sich in Bezug auf Junkies verrechnet hat. Ein Siebenundsechzigjähriger, der seit sechsundvierzig Jahren abhängig ist, sieht nicht unbedingt aus wie fünfundachtzig. Er sieht einfach nur scheiße aus. Aber darum geht’s eigentlich nicht. Wenn dieser Kerl hier der echte Gus Henderson ist, wer ist dann der demente alte Sack, mit dem sie zu tun hatte?
Ihr Gus Henderson wollte sich etwas von der Seele reden. Er weiß etwas von einer Leiche, die in einem Garten begraben liegt, obwohl es eigentlich keinen guten Grund gibt, warum er etwas davon wissen sollte. Er hat ein Foto von einer Weide in einer Zigarrenkiste. Er sagt, er hat einen großen schwarzen Mann getötet und einer der Täter ist dunkel und sehr groß. Und dann überlegt er es sich anders und behauptet, vielleicht ist sein Opfer auch weiß gewesen. Ein verrutschtes Detail und ein dummer Zufall nach dem nächsten. Aber wenn Gus Henderson gar nicht Gus Henderson ist, sondern jemand anders, der in irgendeiner Beziehung zu den Tätern steht, dann wirkt das Ganze schon sehr viel weniger verrutscht und alles andere als zufällig.
Was das bedeuten könnte, lässt ihr Gehirn rattern. Während sie noch darüber nachdenkt, schlägt der blasse Fremde auf dem Bett die Augen auf, als hätte er gerade ein harmloses Schläfchen gehalten. » Wie geht’s Ihnen, alter Freund? «
» Super. «
» Ernsthaft? «
» Was glauben Sie wohl? Ich fühl mich scheiße. «
» Gus, da läuft ein Kerl in der Gegend rum, der sich für Sie ausgibt. «
» Warum sollte das jemand machen? Nicht mal ich will ich sein. «
» Das frage ich mich auch. Er ist mindestens zehn Jahre älter als Sie. Trägt eine dicke schwarze Brille. Pechschwarzes Haar. «
» Hat er eine hübsche schwarze Freundin? «
» Freundin? «
» Eine große Frau, von den Inseln, viel zu jung und nett für den o-beinigen alten Stinker? «
» Jetzt, wo Sie’s sagen. «
» Das ist Emmanuel Robin. Wird von allen nur Manny genannt. «
» Woher kennen Sie ihn? «
» Kann mich nicht mal mehr erinnern, so lange ist das her. Der hat eine Werkstatt in Alphabet City. Macht ein bisschen was von allem– Koffer- und Schmuckreparaturen, Haarschnitte und
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