Verscharrt: Thriller (German Edition)
Swinger‹-Melodie, gesungen von Barry Manilow in einem Fernsehspot mit der jungen Ali MacGraw, bei Jugendlichen sehr beliebt. «
Da der Computer sowieso an ist, beschließt O’Hara, sich noch mal Hendersons Vorstrafenregister anzusehen, und staunt erneut über seine Ausdauer. Er hatte seine Berufung früh gefunden und dann nicht mehr lockergelassen. Machte, was er wollte, so lange er konnte. Bei ihrem Besuch hatte O’Hara keine Spur von Selbstmitleid oder Reue erkennen können. Zwischen seiner ersten Verhaftung ’57 und seiner letzten ’02 liegt eine endlose Liste geringfügiger Gesetzesverstöße– Bettelei, Herumlungern, Schwarzfahren, Ladendiebstahl, Trinken in der Öffentlichkeit, öffentliches Urinieren– sieh einer an, denkt O’Hara–, Besitz von gestohlenem Eigentum, Besitz von Einbruchswerkzeug. Und dann ist da noch eine Menge Mist, der so blöd ist, dass er einem schon wieder genial vorkommt. Zum Beispiel wurde er vor zwanzig Jahren verhaftet, weil er mitten im Juli drei lange Pelzmäntel in der Canal Street zum Pfandleiher bringen wollte.
In seinen Zwanziger- Dreißiger- und Vierziger-Jahren war Henderson wie ein Schlagmann, der garantiert dreißig Home Runs pro Jahr schlägt, nur dass es sich in seinem Fall eben um Festnahmen handelte. Seine Unermüdlichkeit ist so beeindruckend, dass O’Hara die dreijährige Pause zwischen 1988 und 1991 sofort ins Auge fällt. Weitere Recherchen bringen auch den Grund ans Licht: Henderson verbrachte achtundzwanzig dieser sechsunddreißig Monate in Attica, seine erste und einzige längere Haftstrafe, die er wegen eines Überfalls auf dem Washington Square antreten musste, wobei vor Gericht ein bewaffneter Raubüberfall draus wurde, weil entweder er oder sein Komplize mit einem Schraubenzieher herumgefuchtelt hatte.
Bei Schichtende um vier Uhr ist Jandorek schon aus der Tür. O’Hara holt eine Dose Red Bull aus der Schublade und brütet noch ein bisschen länger über den Vorstrafen des Junkies, so wie ein Pferdefan über dem Rennprogramm, und sollte der Umstand, dass sie den Tag durchaus mal mit einem Wodka Grapefruit beginnt, dafür verantwortlich sein, dass ihr Interesse an Hendersons ausdauernder Sucht über das rein Professionelle hinausgeht, dann sei’s drum. Besonders beeindruckt ist sie davon, dass es ihm gelang, nach seiner Haftentlassung sechs Monate lang sauber zu bleiben, dass er die Disziplin aufbrachte, ruhig abzuwarten, bis seine Bewährung abgelaufen war, und das nicht aus dem Wunsch heraus, fortan ein rechtschaffenes Leben zu führen, sondern weil er wusste, wenn er wieder gegen das Gesetz verstieß und erneut in den Bau wanderte, könnte seine schöne Affäre mit dem Dope für immer vorbei sein. Nach seiner Entlassung Mitte 1990 dauerte es fast ein Jahr, bis es mit den Festnahmen wieder losging, und von da an war er vorsichtiger, es gab weniger Vorkommnisse, und er setzte seine Sucht keinen weiteren Gefahren aus.
Um 19:30 Uhr geht O’Hara den kurzen Weg bis zur Second Avenue und kauft sich Rindfleisch mit Brokkoli in einem Imbiss an der Twenty-Second. Sie hätte nie gedacht, dass sie schlechtes chinesisches Essen noch mal vermissen würde, aber sie tut es. Fett, Zucker und Geschmacksverstärker haben noch nie so gut geschmeckt. Sie verschlingt die komplette Portion an ihrem Schreibtisch, und während sie noch über dem letzten tropfenden Brokkoliröschen verweilt, fällt ihr Hendersons Entlassungsdatum aus Attica ins Auge– 15. August 1990. Das war vor siebzehn Jahren, fast auf den Tag genau, und Henderson hat Williamson erzählt, er habe vor siebzehn Jahren jemanden ermordet.
O’Hara ist da etwas auf der Spur. Bei Mord gibt es keine Zufälle. Wenn sein Geständnis aufrichtig war, und O’Hara ist zunehmend davon überzeugt, dann hat er kurz nach seiner Entlassung jemanden getötet. Vielleicht, denkt O’Hara, geht der Mord auf etwas zurück, das im Knast passiert ist. Sie loggt sich in die Datenbank der Gefängnisbehörde ein, um zu sehen, ob sie erfahren kann, wie Gus seine Zeit dort verbracht hat. Wie sich herausstellt, sehr gut. Keine Verwarnungen, keine Disziplinarmaßnahmen, keine Hinweise auf Streit. Henderson hat sich zusammengerissen und seine Strafe wie ein Erwachsener abgesessen. Selbst Kelso wäre beeindruckt gewesen. Er war ein so guter Insasse, dass sie ihn sogar zwei Monate früher wieder rausließen.
Da hier nichts zu holen ist, konzentriert sich O’Hara erneut auf Hendersons Leben auf der Straße und scrollt noch
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