Verscharrt: Thriller (German Edition)
umarmen.
» Ich sag dir eins « , sagt ihr ehemaliger Partner K. » Der Junge hat Eier. «
» Ein neunzig Kilo schwerer Kobold in deutschem Leder « , sagt Flannery. » Mir gefällt so was. «
O’Hara selbst ist überwältigt. Woher hat Axl, der als Vierzehnjähriger nach seiner ersten Trennung derart traumatisiert war, dass sie eingreifen und einen Ausflug an den Grand Canyon mit ihm machen musste, die– wie K sich ausdrückte– Eier, so laut und heftig aufzudrehen? Und woher kommt die Erfahrung, um solche Texte zu schreiben? Und wie ist das alles passiert, ohne dass sie etwas davon mitbekam?
O’Hara hatte naiverweise vor, ihren Sohn zur Feier des Tages auf einen Drink einzuladen, aber als sie das Gewühl von Freunden sieht, darunter auch ein sehr hübsches Mädchen, wird O’Hara klar, dass Axl den ersten Auftritt seiner Band nicht mit seiner Mutter feiern wird. Froh, eine Fünf-Sekunden-Audienz gewährt zu bekommen, zieht sie sein Ohr in Flüsternähe und kommt gleich zur Sache.
» Das war verdammt geil, Axl. Und das sag ich nicht einfach nur so. «
» Danke, Darlene. «
O’Haras ehemalige Kollegen müssen zurück nach New City, Long Beach und Valley Stream, aber O’Hara ist noch viel zu aufgekratzt für Riverdale. Außerdem hat sie noch zu tun, und nachdem sie drei Zwanziger in das Trinkgeldglas gesteckt hat, geht sie zur Treppe. Abends um elf an einem Donnerstag im Sommer ist auf der Second Avenue die Hölle los. O’Hara schiebt sich bis an den Bordstein und wirft noch einmal einen Blick auf das Gebäude, das nun für immer dasjenige sein wird, in dem Axl sein erstes New Yorker Konzert gespielt hat. Bis jetzt war ihr nie so richtig aufgefallen, wie ukrainisch dieser Straßenzug ist, mit dem Veselka an der Ecke und daneben dem Ukrainian National Home, ein architektonisch erschreckend hässliches Bauwerk, das aussieht wie aus einer mittelgroßen Sowjetstadt hierher versetzt. O’Hara ist bereits hundert Mal am Ukrainian-Center vorbeigegangen, ohne dass ihr die in die Fassade eingelassene, goldene Büste des Mannes aufgefallen wäre, bei dem es sich wohl um den ukrainischen George Washington handelt.
Einen halben Block weiter südlich biegt O’Hara in den St. Mark’s Place ein. Sie ist gerade alt genug, um sich an eine Zeit zu erinnern, als man hier noch so etwas wie einen echten grenzüberschreitenden Thrill verspürte. Jetzt gibt es hier nur noch billige Touristenfallen– Headshops, Tattoostudios und T-Shirt-Stände– und Dutzende kleiner Restaurants, die meisten davon japanisch. Alles, was von den bösen alten Zeiten von Joey, Dee Dee, Sid und Nancy übrig geblieben ist, sind das Gem Spa am einen Ende und das Continental am anderen– und außerdem die Grassroots Tavern in der Mitte, wo O’Hara einen ersten Zwischenhalt einlegt.
Sie nimmt ihren Maker’s Mark mit nach hinten an einen kleinen Tisch gegenüber von zwei Dartscheiben, hebt ihr Glas, prostet sich stumm zu und wiederholt, was sie ihrem Sohn ins Ohr geflüstert hat– Das war verdammt geil, Axl. Und das sag ich nicht einfach nur so.
Mit den Jahren hat die Grassroots Tavern einiges von ihrem wilden Charme verloren, was sie aber mit der stärksten Klimaanlage südlich der Fourteenth Street wieder wettmacht, und O’Hara fragt sich, ob die kühle Zugluft stark genug ist, um die Flugbahn eines Dartpfeils umzulenken– nicht, dass sie sich normalerweise einen feuchten Scheiß für Darts interessieren würde. Dann blickt sie über ihre Schulter, und als sie sieht, dass der Barmann abgelenkt ist, zieht sie einen rechteckigen Aufkleber aus ihrer Tasche, schält die Folie an der Rückseite ab und klebt ihn zwischen die beiden Scheiben an die Wand. Volltreffer.
Bis jemand motiviert genug ist, das Ding abzukratzen, werden jedem Dartspieler mit sinkender Konzentration die Flat Screens ins Auge fallen. Und damit beginnt ein erfolgreicher Blitzangriff auf ein halbes Dutzend Kultkneipen im East Village, in denen O’Hara was trinkt, einen Bandaufkleber anbringt und sich anschließend schnell wieder aus dem Staub macht. Innerhalb der nächsten anderthalb Stunden versieht sie die Damentoiletten der Holiday Lounge, des International, des Lakeside, des 7B und des Manitobas mit Flat-Screens-Aufklebern. Möglicherweise lässt sich so was als Guerilla-Marketing bezeichnen, wahrscheinlich ist es aber schlicht Vandalismus. Auf jeden Fall sind die Arbeitsbedingungen so übel, dass mindestens ein Orden und eine Tetanusspritze für sie drin sein
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