Verscharrt: Thriller (German Edition)
als achtzig Jahre sein kann. Mit liebreizendem Lächeln überreicht er ihr die Tüte und sagt: » Einen schönen Abend noch. «
KAPITEL 26
» Viel Blut ist das nicht « , sagt O’Hara. Sie hatte insgeheim auf ein modernes verglastes Gebäude gehofft, in das wie bei Dexter die Tropensonne strömt. Vielleicht auch auf eine hübsche Aussicht mit Palmen und Wasser, außerdem ein oder zwei durchtrainierte Latino-Cops. Stattdessen sitzt sie in einem fensterlosen Raum, der genauso verdreckt ist wie die Büros des Siebten und betrachtet ein Dutzend großformatige Abzüge, die einen alten Juden auf dem Fliesenboden seines Badezimmers zeigen. Die Fotos, die am 3. März in Unit 306 einer Wohnsiedlung namens Banyan Bay in Longboat Key gemacht wurden, vermitteln eine recht gute Vorstellung von den letzten Augenblicken im Leben des Benjamin Levin, einem pensionierten siebenundachtzigjährigen ehemaligen Hersteller von Kosmetikhandschuhen für Frauen.
» Das hat man davon, wenn man sich mit einem Gewehr für die Hasenjagd erschießt « , sagt Connie Wawrinka, Detective aus Sarasota, die O’Hara zwei Tage zuvor angerufen hatte. » Man kann nicht unbedingt behaupten, dass er sich das Hirn weggeblasen hätte. Die Kugel hat seinen Schädel nicht verlassen. Ist nicht mal bis zum Knochen vorgedrungen. «
Die erste Reihe von Fotos zeigt Levin aus verschiedenen Blickwinkeln und Entfernungen auf dem Badezimmerboden, seine kurze Tennishose und sein Hemd sind eine Spur dunkler als die weißen Fliesen. Nur die angetrocknete Blutspur zwischen seinen Nasenlöchern und der Oberlippe sowie der dunkle Fleck, nicht größer als ein Kaffeelöffel, der ihm wie eine Sprechblase vor dem Mund hängt, vermitteln eine Ahnung, wie er dort hingekommen sein könnte. Trotz seines Alters sind seine behaarten Arme und Beine drahtig, und O’Hara fragt sich, ob auch Leibowitz zum Schluss noch so rank und schlank sein wird. Juden sehen im Alter meist gut aus, denkt sie. Andererseits, wenn man sich überlegt, was bei denen alles verboten oder nicht gern gesehen ist… Alkohol, Zigaretten, spät ins Bett gehen, scharf essen, man darf dieses nicht und jenes nicht– dann zahlt sich das eigentlich kaum aus.
» Sehen Sie sich das mal an « , sagt Wawrinka und zeigt auf ein Bild von Levins Schlafzimmer in der Reihe darunter. Links steht das ordentlich gemachte Bett des Opfers, darauf ein dunkles rechteckiges Gebilde. Rechts, direkt vor der Badezimmertür, sieht man die Gummisohlen von Levins Tennisschuhen. Am Nachttisch dazwischen lehnt das antike Holzgewehr, mit dem Levin mutmaßlich sein Leben beendete. » Er hatte sich die Kugel schon in den Kopf gejagt und war noch in der Lage, die Waffe an den Nachttisch zu stellen und sich fast bis ins Badezimmer zu schleppen. «
» Er wollte keine Schweinerei zurücklassen « , sagt O’Hara. Genau wie Leibowitz, denkt sie und sehnt sich nach ihm wie schon seit Wochen nicht mehr.
» Die Rettungssanitäter haben gesagt, die Leiche war noch warm. Die arme Sau hat zehn Minuten gebraucht, um zu sterben. Und er hatte Glück, dass er überhaupt gestorben ist. Punkt. « O’Hara blickt von den Fotos zu der über eins achtzig großen Wawrinka auf. Obwohl sie sich Mühe gibt nicht zu starren, richtet sie den Blick wohl doch einen Moment zu lange unverwandt auf ihre Kollegin oder guckt zu erstaunt, denn Wawrinka lächelt und sagt: » Hawaiianische Mutter, polnischer Vater. «
Sehr witzig, denkt O’Hara, aber ist das wirklich ein Witz? Wawrinka hat einiges, von dem O’Hara nicht so genau weiß, was sie davon halten soll. Ihr Bekenntnis zu ihrem kunterbunten Stammbaum erklärt die Mandelaugen im fleischigen osteuropäischen Gesicht, erlaubt aber kaum Aufschluss über ihre augenfällige Androgynität. Bei dem NYPD gibt es jede Menge maskuline Lesben. Das liegt in der Natur der Sache, aber was Wawrinka aus ihrem Button-down-Hemd, ihren Jeans und den altmodischen Pumas macht, wirkt viel charismatischer und stylischer, ist eher schon eine Form von Crossdressing. Mit ihrem dichten pechschwarzen Haar und dem kurzen Pony, den sie wie Koteletten an den Seiten rund geschnitten trägt, ähnelt sie einem polnisch-asiatischen Elvis. » Ist das ein Buch? « , fragt O’Hara, und meint damit den dunklen Gegenstand auf der Tagesdecke.
» Ein gerahmtes Foto « , sagt Wawrinka, » von seinem Enkel. Anscheinend hat er es vom Nachttisch genommen, bevor er sich erschossen hat, es ein letztes Mal angesehen und dann mit dem Bild nach unten aufs Bett
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