Verscharrt: Thriller (German Edition)
Übelkeit leidenden Reisenden Richtung Ausgang. Sie schiebt sich durch die stickige Luft der Holzklasse und die noch warmen Partyüberreste der Businessclass und spaziert wie bei einer Gegenüberstellung an den quietschfidel lächelnden Stewardessen vorbei. Als sie in den Tunnel steigt, der das Flugzeug mit dem Terminalgebäude verbindet, bekommt sie dank der schlechten Dichtungen einen ersten Vorgeschmack auf die Hitze in Florida.
Im Terminal wäscht sich O’Hara das Gesicht und kauft sich eine Flasche Wasser, dann fährt sie auf dem Laufband an Starbucks und TGIF vorbei. Neben einer Riesenwerbetafel für Accenture mit dem gebieterisch wirkenden Tiger Woods finden sich hier regionale Anzeigen für Barnacle Bill’s Seafood und das Krampfaderzentrum in Sarasota, das dazu einlädt, » den Krampfadern davonzulaufen « . Vor ihr, am Ende des Laufbands, begrüßt ein älteres Ehepaar freudig seine Enkelkinder– O’Hara nimmt an, dass die beiden ohne jede Spur von Ungeduld bereits seit Stunden dort gewartet haben–, während dahinter in einem bodentiefen Aquarium ein kleiner Hammerhai zornig seine Runden dreht, die toten Augen unverwandt auf die Fleischparade gerichtet.
O’Hara macht einen Bogen um die frisch vereinte Familie und den hungrigen Hai und fährt mit der Rolltreppe nach unten. Unterwegs passiert sie eine monumentale Bronzestatue von Hernando de Soto und erfährt, dass der spanische Entdecker um 1540 die Golfküste erreicht hat. Bislang hat O’Hara immer nur eine Berühmtheit mit Sarasota in Verbindung gebracht, nämlich Pee-Wee Herman– wobei sie durchaus Verständnis dafür hat, dass die zuständige Handelskammer auswärtige Besucher lieber nicht mit Pee-Wee begrüßen möchte.
Als O’Hara ins Freie tritt, ist vom Tag nur noch ein rosa Leuchten übrig, aber selbst um neun Uhr abends schlägt ihr noch die dicke Sumpfluft ins Gesicht, und bis sie den Parkplatz überquert und ihren Mietwagen gefunden hat, ist der Rücken ihres T-Shirts völlig verschwitzt.
Im Marriott ist ein Zimmer für sie reserviert, aber sie hat es nicht eilig, dorthin zu kommen sie fühlt sich auch nicht heimisch genug, um noch einen draufzumachen. Stattdessen fährt sie ein bisschen spazieren, lässt die Fenster runter und wird zur Touristin.
Das Flughafenlabyrinth spuckt sie an der Route 45 aus, Beginn des Tamiami Trails und Zufahrtsstraße nach Sarasota. Vor ihr steht ein verrosteter Pick-up mit laufendem Motor. » Wenn ich alt bin, ziehe ich in den Norden und fahre im Schneckentempo « , steht auf einem Aufkleber an der Stoßstange. Auf der anderen Straßenseite ist das JohnRingling-Museum, eine riesiges Gebäude mit viel Marmor, das der Zirkusdirektor einst dem Staat Florida vermacht hat. Ringling war der Partner von P. T. Barnum, dessen Worte die Wand des Theaters in Coney Island zieren, und O’Hara schüttelt den Kopf, weil zwischen diesem Palast und der verschwitzten Bruchbude an der Strandpromenade Welten liegen. Sie fährt Richtung Osten, und mit der Gegend geht’s rapide bergab. Zweistöckige Betonbauten säumen die Straße– das Cadillac Motel, das Flamingo Inn, eine Cocktail Lounge namens Memories. Zwischen den » Zimmer frei « -Schildern erheben sich Werbetafeln für Mom’s Bail Bonds, Justice.com und Credit Repair. Auf anderen ist gar keine Reklame zu sehen, nur der Hinweis » Man kann mich mieten « und eine Telefonnummer. Die Mischung aus Hitze und Schmutz verströmt Dritte-Welt-Atmosphäre. Ein Junge ohne Hemd radelt über einen leeren Parkplatz. Wahrscheinlich versucht er nur ein bisschen Wind aufzuwirbeln und einen Luftzug auf der Haut zu spüren, denkt sie, aber selbst bei sechzig Stundenkilometern ist kein Luftzug spürbar.
Während sich O’Hara mit den lokalen Gegebenheiten vertraut macht, kehrt sie mental zu den Fragen zurück, die sie aus New York mitgebracht hat. Was bedeutet es, dass sich ein siebenundachtzigjähriger Rentner aus Teaneck, New Jersey, mit derselben Waffe erschießt, mit der ein neunjähriges Straßenkind aus dem East Village getötet wird? Was verbindet diese beiden Leichen, die tausende Meilen voneinander entfernt gefunden wurden? Auf die Nachricht von der ballistischen Übereinstimmung hin wurde umgehend die DNA des Jungen nach Florida geschickt und überprüft, ob ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen den beiden bestand, aber das Testergebnis war negativ. Die einzige Verbindung, zumindest in groben Zügen, besteht bislang im Timing. Der alte Mann starb vor etwas über sechs
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