Verscharrt: Thriller (German Edition)
Monaten am 3. März, und Bradley hatte aufgrund des raschen Verwesungsprozesses der New Yorker Leiche, die an zwei verschiedenen Orten gelegen und zunächst ungeschützt der Luft ausgesetzt gewesen sein musste, sowie des Madenbefalls cirka denselben Zeitrahmen für den Tod des Jungen veranschlagt.
Auf einer Markise steht » Erwachsenenfilme, XXX Video Club « , und dahinter befindet sich ein schlichtes weißes Gebäude, dessen äußere Trostlosigkeit vermutlich nur von der im Inneren übertroffen wird. Ob Pee-Wee hier verhaftet wurde? Irgendwo hat O’Hara gelesen, dass er sich einen Tittenfilm mit dem Titel Schwester Nancy angesehen hatte, eine Detailinformation, die ihr nicht aus dem Kopf geht. War es wirklich notwendig gewesen, Pee-Wee gleich mitzunehmen? Natürlich hatten die Beamten erst hinterher gemerkt, wer er war, aber vielleicht sollten bestimmte, nicht ganz so nervtötende Promis gegen Festnahmen immun sein, vor allem wenn es bloß um belangloses und peinliches Fehlverhalten geht– weniger um ihrer selbst willen als im Interesse aller anderen.
Die Aussicht auf dem Tamiami Trail wird wieder erträglicher, und schon bald lassen die verspiegelten Glasflächen der Innenstadt den Autofahrer hoffen, gesund und munter im Land des Geldes einzutreffen. O’Hara meidet das Geschäftsviertel und überfährt eine elegante Brücke über den Hafen. Links liegt der Golf von Mexiko und rechts der Intracoastal Waterway. Unterhalb der Straße schaukeln schlanke Rennboote vor den privaten Anlegestellen. Vom höchsten Punkt der Brücke aus erkennt O’Hara aus dem Augenwinkel glitzernde Schnüre und sieht, dass es sich um Angeln handelt, die von dunkelhäutigen Männern in T-Shirts und Shorts offensichtlich in der Hoffnung ausgeworfen werden, sich kostenlose Proteinzufuhr aus dem Hafen zu sichern.
Nicht weit hinter der Brücke geht O’Hara in einem Kreisverkehr vom Gas und hört das Geklimper eines Pianisten, der draußen vor einem Restaurant sitzt und spielt. O’Hara erkennt die Melodie, kommt aber nicht auf den Titel des Songs. Ein weißhaariges Paar macht einen Schaufensterbummel– die Frau trägt Absätze und ein Kleid, der Mann lange Hosen und weiße Lacklederschuhe–, und trotz der Hitze halten sie Händchen. Als sie den Kreisel halb umrundet hat, sieht O’Hara ein Schild, das Richtung Longboat Key weist, wo Benjamin Levin gelebt hat, wie sie sich aus ihrer Unterhaltung mit Connie Wawrinka erinnert.
O’Hara überquert eine zweite Brücke und schaut erneut auf den Golf hinaus, dieses Mal unter einem Halbmond. Dann entscheidet sie sich für die flache gerade Straße, die die schmale Landzunge mit ihren Golf- und Tennisplätzen und eleganten zwanzigstöckigen Wohngebäuden teilt. An jedem bewachten Eingang hängen Schilder mit dem Vermerk » Eigentumswohnungen zu verkaufen « –, und O’Hara genießt die Ruhe der Betuchten, bis ihr beim Anblick eines Supermarkts namens Publix einfällt, dass sie nur acht kleine Salzbrezeln zu Abend gegessen hat.
Der Laden macht in sieben Minuten zu, und der Parkplatz ist leer. In New York müsste sie jetzt schon an die Scheibe klopfen und auf die Uhr zeigen. Hier tritt ihr gleich hinter der gläsernen Automatikschiebetür ein lächelnder Mann in schwarzer Hose und limettengrünem Hemd entgegen. Er sagt: » Willkommen bei Publix « und scheint das auch so zu meinen, und in den wenigen Minuten, die O’Hara braucht, um sich ein Six-Pack Amstel und ein Putensandwich von der Feinkosttheke zu holen, wird sie von zwei Mitarbeitern gefragt, ob man ihr irgendwie behilflich sein könne. Was kein Rausschmiss sein soll. Ist sie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen und im Himmel gelandet? Oder in einem Paralleluniversum?
An der Kasse dasselbe. Ob sie gefunden hat, was sie brauchte? Hatte sie einen schönen Abend? Warum sind hier alle so verdammt nett? Liegt das an der Hitze, der Sonne, der Wirtschaftsmisere? Laufen die Geschäfte so schlecht, dass man hier für jeden Kunden dankbar ist, egal wann er oder sie hereinspaziert? Doch trotz alledem endet ihr Ausflug auf einer unschönen Note. Nachdem O’Hara bezahlt und ihr Wechselgeld eingesteckt hat, packt ein Mann mit einer großen Plastikbrille und einem locker sitzenden Kittel ihre größtenteils flüssige Abendmahlzeit in Tüten. Als ihr Gehirn seine sehnigen Arme und seine fast transparente Haut registriert, wird ihr klar, dass dieser Mann, der hier für einen Hungerlohn die Blüte seines Lebens verschenkt, keinen Tag jünger
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