Verschieden - ein Mira-Valensky-Krimi
Weißgerber seufzt und steht auf. »Ich bin gleich zurück«, sagt er zu dem Knaben.
Ich führe ihn zu meinem Tisch.
»Das Übliche, Herr Doktor?«, fragt der Ober.
»Ja. Bringen Sie es zum Schachtisch«, erwidert der Arzt. Offensichtlich hat er nicht vor, lange mit mir zu reden.
»Man kennt Sie hier gut«, beginne ich das Gespräch ganz allgemein.
»Ich bin häufig hier. Allerdings: Herr Doktor sagt der Ober zu allen – soll ich ihn irritieren, indem ich ihm sage, dass ich wirklich einer bin?« Er mustert mein Gesicht. »Irgendwo habe ich Sie schon einmal gesehen.«
In der Ordination sind wir uns nicht begegnet.
»Sie sind Journalistin. Sie arbeiten für das ›Magazin‹. Ich habe Ihren Artikel über Terror gelesen.«
»Sie lesen das ›Magazin‹?«
»Ich lese alles, was mir zwischen die Finger kommt.«
Nicht eben schmeichelhaft.
»Ich bin nicht als Journalistin hier, sondern als Kollegin und Freundin von Gerda. Sie arbeitet …«
Dr. Weißgerber seufzt. »Das weiß sogar ich, auch wenn ich sonst von seinem Privatleben so gut wie nichts gewusst habe.«
»Warum nicht?«
»Keine Ahnung. Ich habe mich wohl nicht besonders darum gekümmert. Ich lebe mein eigenes Leben, und das ist dank meiner Stunden in der Ordination wieder um einiges sinnvoller geworden. Außerdem war er ein zurückhaltender Mensch.«
»Warum tun in der Ordination alle so, als wäre Dr. Hofer noch am Leben?«
Dr. Weißgerber sieht durch das hohe, nicht ganz saubere Fenster nach draußen auf den Gürtel. »Wir wollen die Patienten nicht verschrecken.«
»Das ist alles? Müssen Sie es ihnen nicht irgendwann doch einmal sagen?«
»Die meisten wollen sich lieber von Dr. Hofer als von mir behandeln lassen, das ist nun einmal so. Einem in meinem Alter traut man nicht mehr so viel zu. Und er war ja wirklich ein besonders guter Arzt, ein hervorragender Diagnostiker. Sie sollen sich an mich gewöhnen. Aber wahrscheinlich ist das ohnehin nur eine Ausrede, weil wir nicht wissen, was wir erzählen sollen. Aber wenn Sie jetzt alles in die Medien bringen …«
»Das habe ich nicht vor, zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt.« Mir ist nicht ganz klar, ob der Arzt darüber froh ist.
»Wie war Dr. Hofer?«, frage ich.
»Wie schon gesagt: ein hervorragender Arzt, verlässlich, kompetent, einer, dem es nicht ums Geld ging, sondern um seine Patienten. Einer der wenigen, die noch regelmäßig Hausbesuche machen. Und: Er hat mir eine neue Chance gegeben.«
»Wie sind Sie zu ihm gekommen?«
»Ich hatte eine gut gehende Praxis im zweiundzwanzigsten Bezirk. Meine Frau und ich, wir hatten immer schon geplant, dass ich an meinem fünfundsechzigsten Geburtstag aufhöre und die Praxis zusperre. Wir hatten vor, uns die Welt anzusehen. Meine Frau war zehn Jahre jünger als ich, wir hätten Zeit und Geld und auch noch die Kraft gehabt, um zu reisen. Ich habe die Praxis tatsächlich verkauft, unsere erste Reise sollte nach Südamerika gehen. Drei Monate, gut vorbereitet von meiner Frau. Und dann …« Er schüttelt den Kopf, schweigt, redet erst nach einer langen Minute weiter, »… und dann geht sie gleich vor unserem Haus über die Straße, um Semmeln zu holen, ein Betrunkener fährt sie mit dem Auto nieder, sie war sofort tot.«
Was sagen? Was fragen? Aber Dr. Weißgerber fährt von selbst fort.
»Ohne sie habe ich nicht reisen mögen, auch wenn es wahrscheinlich vernünftig gewesen wäre. Ich bin per Zufall mit Dr. Hofer ins Gespräch gekommen, und der hat mir angeboten, bei ihm mitzuarbeiten. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich ihm dafür bin. Das war vor vier Jahren.«
»Hatte er Feinde?«
»Dr. Hofer? Nicht dass ich wüsste. Aber wie gesagt, ich kannte ihn fast nur beruflich. Und was die Patienten angeht: Natürlich gab es immer wieder auch Unzufriedene unter ihnen, das liegt in der Natur der Dinge, aber die meisten waren von ihm sehr angetan. Und die Sprechstundenhilfen haben ihn beinahe schon verehrt. Er hatte so eine ruhige Art. Manchmal vielleicht ein bisschen ernst und auch überarbeitet, aber immer sehr konzentriert und kompetent.«
»Hat es irgendwelche Auseinandersetzungen wegen Behandlungsfehlern gegeben? Unerwartete Todesfälle? Ich meine, nicht dass er oder Sie etwas verpfuscht hätten, aber Patienten könnten sich ja einbilden …«
Dr. Weißgerber schüttelt den Kopf. »Ich kann mich an nichts Derartiges erinnern.«
»Wie würden Sie die Beziehung zwischen Dr. Hofer und seiner Frau einschätzen?«
Dr. Weißgerber
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