Verschieden - ein Mira-Valensky-Krimi
ist mein Vater mit uns sogar einmal in die Disko gegangen und hat Karaoke gesungen. Wir haben eine Menge gelacht. – Ich muss jetzt zurück. Und ich muss noch das Kleid finden, das ich letztes Jahr …«
»Du bist ziemlich egoistisch, was?«, faucht Vesna.
Ich sehe sie erstaunt an. Solche Gefühlsausbrüche sind bei ihr selten, ist es ein Wunder, dass das Mädchen mit dieser Situation nicht umgehen kann?
Claudia klappt erschrocken die Augen auf.
»Du kümmerst dich besser um deinen Bruder«, befiehlt Vesna.
»Der tut doch nichts außer am Computer spielen, und über alles andere will er nicht reden. Er hat Vater gehasst.« Aber sie stellt ihre Tasche wieder hin und spielt mit dem Mobiltelefon.
»Jetzt musst du erwachsen sein«, redet Vesna weiter. »Du rufst deine Mutter an, und am Abend beratet ihr zu dritt, wie es weitergeht. Ihr erbt Geld und Praxis, so sieht es aus. Da kann euch niemand mehr draußen halten aus der Sache, auch nicht deine Mutter. Ihr seid mitten drin.«
Claudia spielt weiter mit ihrem Mobiltelefon, aber sie widerspricht nicht.
Mag sein, dass Vesnas Aktion nicht besonders feinfühlig ist, aber sie ist erfolgreich.
Ich will mit Dr. Weißgerber über seinen Kollegen reden. Wenn der Mord nicht mit der Scheidung, sondern mit der Arztpraxis in Zusammenhang steht, könnte er wertvolle Informationen liefern. Und jedenfalls soll er mir erklären, warum alle in der Ordination so tun, als wäre Dr. Hofer noch am Leben.
Aber besser, die Sprechstundenhilfen wissen so lange wie möglich nicht, wer ich bin. Gerda hat mir die Privatadresse des alten Arztes gegeben. Und sie hat mir einen noch wertvolleren Tipp geliefert: Gegen Abend sitzt Dr. Weißgerber gerne im Café Westbahn und spielt Schach.
Das Café gehört zu den wenigen in Wien, die noch nicht zu Tode renoviert worden sind. Es hat diese gewisse Patina aus verschlissenem Plüsch, abgestandenem Rauch, Obern mit schwarzer Fliege, die nur dann verlässlich kommen, wenn Schichtwechsel ist und sie kassieren wollen. Man trifft hier Studenten ebenso wie selbst ernannte oder tatsächliche Intellektuelle, dazu Touristen mit schwerem Gepäck, ausgespuckt vom Westbahnhof gegenüber, und eben Schachspieler, manchmal auch Kartenspieler sowie fast alle, die in der Gegend rund um den Gürtel wohnen und nicht in den eigenen Wänden versauern wollen.
Ich sehe mich um, die Ordination hat heute Nachmittag geschlossen, aber noch ist kein Dr. Weißgerber da. Mir ist nicht nach Kaffee, ich bestelle einen Campari Soda mit viel Campari und wenig Soda. Der Ober nimmt meinen Wunsch regungslos entgegen, ich hätte auch einen Molotowcocktail oder ein Gulasch mit Sachertorte bestellen können, und er hätte exakt gleich dreingesehen, Kellner-Nirwana. Arme und Beine bewegen sich, der Geist ist im süßen Nichts.
Aber der Campari ist perfekt, und ich bin froh, dass Dr. Weißgerber auf sich warten lässt. Denn während einer Schachpartie würde ich ihn schwerlich unterbrechen können. Am Tisch, der üblicherweise den Schachspielern gehört, lümmeln ein paar Halbwüchsige herum, sie sind so zwischen zwölf und fünfzehn Jahre alt, trinken Cola und gehören genauso dazu wie der Rest der Gäste.
Vesna wird versuchen, etwas über mögliche Behandlungsfehler herauszufinden. Sie hat gemeint, sie hätte schon eine Idee, wie das gelingen könnte. Trotzdem hat sie natürlich Recht: Am wahrscheinlichsten ist, dass Scheidung und Mord zusammenhängen.
Der da bei der Tür hereinkommt, kann nur Dr. Weißgerber sein. Gerdas und Vesnas Beschreibung passt genau: maximal eins sechzig groß, weiße Haare, rundlich, um die siebzig. Er strebt auf den Tisch mit den Kids zu. Ob er sie vertreiben wird? Etwas völlig anderes geschieht. Er gibt einem der größeren Buben die Hand, die anderen rutschen etwas zur Seite, der Ober bringt ungefragt ein Schachbrett. Jetzt heißt es schnell sein, oder du musst möglicherweise mehrere Stunden ausharren, Mira.
Ich stehe auf, stolpere fast über ein Tischbein – peinlich, zu viele Gäste sehen mich an –, gehe auf Dr. Weißgerber zu. Der Junge, der mich mit seiner runden Brille und seinem Blick irgendwie an Harry Potter erinnert, stellt gerade die Figuren auf.
Was, wenn der alte Herr doch nicht Dr. Weißgerber ist?
»Mira Valensky«, sage ich. »Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?«
»Worum geht es?«
Er sieht mich freundlich, aber unverbindlich an.
»Um Dr. Hofer.«
»Wer sind Sie?«, fragt er scharf.
»Eine Freundin von Gerda Hofer.«
Dr.
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