Verschleppt
sein .
Nichts mehr hören. Nichts mehr sehen. Nichts mehr spüren, sich nicht mehr erinnern. Nicht mehr reagieren auf Reize um sie herum. Sich nur noch eine dunkle Leere vorstellen, darin schweben wie ein gekrümmter Fötus, schwerelos, ziellos, völlig autonom.
Aber jetzt musste sie ebendoch reagieren. Eine Untersuchung im Krankenhaus würde bedeuten, dass andere Leute sich an ihrem Körper zu schaffen machten. Dass sie sich ausziehen lassen musste. Sich hinknien, vorbeugen, fremde Hände auf sich spüren, kalte Blicke, sterile Instrumente. Nadeln …
Nicht da. Sie wollte sie da nicht haben.
Das hielt sie nicht aus.
»Ich will es nicht«, flüsterte sie. Ihre Stimme klang rau und gepresst.
Maier reagierte sofort. »Ich fürchte, du brauchst einen Arzt …«
»Ich-will-es-nicht!«
»Dann fahren wir nach Hause, Schatz. Kein Problem.«
»Nein.« Sie hustete. Zuhause, das war ihre Wohnung in der Innenstadt von Den Bosch, jener pechschwarze Ort in Zeit und Raum, wo dieser Russe sie überwältigt hatte, als sie noch sorglos und ihr Elend bloß gedanklich gewesen war.
Ein verseuchter Ort. Ein unsicherer Ort. Feindliches Gebiet.
»Ich will nicht nach Hause«, murmelte sie.
»Hast du irgendwo noch ein anderes Quartier?«, wandte die dunkelhäutige Frau sich an Maier.
So gut kennen sie einander also nicht.
»Nein. Können wir nicht zu dir?«
»Lieber nicht. Sie muss aus dem Auto raus, über den Parkplatz getragen werden, in den Fahrstuhl und den ganzen Außenflur entlang. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir dabei gesehen werden, ist ziemlich groß.«
»Was dann?«
»Ich kenne ein Motel, so eins wie in Amerika. Man bezahlt drinnen an der Rezeption, aber die Zimmer liegen rund um einen Platz an der Rückseite des Gebäudes. Perfekt geeignet. Wenn ich mich nicht täusche, gibt es sogar komplette Appartements mit mehreren Betten.«
»Du weißt ja gut Bescheid.«
»Das muss ich auch. Solche Zimmer werden manchmal von genau solchen Arschlöchern benutzt, wie wir sie heute Abend besucht haben, als Dependance ihres Bordells sozusagen. Wenn ihnen der Boden unter den Füßen zu heiß wird oder sie mehr Frauen als Betten haben, mieten sie für einen Tag so ein Zimmer und setzen da ein oder zwei Mädchen rein, mit einem Zuhälter, der auf sie aufpasst. Und die Angestellten stellen keine Fragen. Wissen ja auch offiziell von nichts, denn an der Rezeption lassen sich die Kunden gar nicht erst blicken. Die parken ihr Auto direkt vor der betreffenden Tür.«
»Ist es weit?«
»Zehn Minuten. Ich bin schon auf dem Weg.«
65
Wadim stellte fest, dass die einst so ruhige Straße zum Schauplatz eines regelrechten Alptraums mutiert war.
Absperrband aus Plastik flatterte im Wind. Polizisten in knallgelben Westen hielten die herbeigeströmten Schaulustigen auf Abstand. Beamte sprachen mit ernsten Mienen in ihre Funkgeräte. Blaue und orange Warnlichter flitzten über die düstere Fassade.
Nach seinem ersten Versuch hatte er den Ukrainer im Halbstundentakt auf dem Handy angerufen. Maxim war nicht drangegangen. Als er um elf Uhr noch immer keinen Mucks von sich gegeben hatte, war Wadim ins Auto gestiegen und hatte sich auf den Weg gemacht.
Er zählte drei normale Polizeiwagen, drei unauffällige Vito-Transporter und einen Krankenwagen. In der schmalen Straße war für so viele Fahrzeuge kaum Platz. Zwischen den Parkschlangen kamen zwei in entgegengesetzte Richtungen fahrende Autos sowieso schon kaum aneinander vorbei, aber jetzt war das Chaos komplett. Fehlten bloß noch kreisende Hubschrauber mit Suchscheinwerfern und bellende Schäferhunde.
Wadim zog sich die Kapuze seiner Jacke so tief wie möglich ins Gesicht, beugte den Kopf, zog die Schultern hoch und mischte sich unauffällig zwischen ein paar Anwohner. Hinter ihm wurde Polnisch gesprochen. Neben ihm war ein Typ mit zerfurchtem Gesicht, Rastazöpfen und einem Joint zwischen den Lippen. Ein paar Rentner in Regenjacken standen eingehakt. Schräg vor ihm sah er ein paar etwa sechzehnjährige Mädchen mit Fahrrädern, sie trugen lange Wollschals, redeten laut und kicherten nervös.
Dann verstummten die Gespräche, und alle sahen gebannt zu, wie ein Leichensack nach draußen gebracht wurde, um in einem der bereitstehenden Vitos zu verschwinden. Der Fahrer schloss die Türen und wollte wegfahren. Das ging erst, nachdem man eines der Polizeiautos zur Seite gefahren hatte.
Ein zweiter Sack wurde aus dem Gebäude herausgetragen. Die Zuschauer reckten die Hälse, um
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