Verschleppt: Linda Roloffs sechster Fall (German Edition)
Madame. Ich jetzt werde abgeschoben, sagt Madame. Sie droht, mich
zu schlagen, wenn ich was sage.«
»Und wirst
du etwas sagen?«
Hadé schüttelte
den Kopf.
»Keine von
uns wird was sagen. Wir wissen, was dann passiert. Keine will in den Nächten Bäume
zählen. Mahama ist stärker als Polizei.«
»Du fürchtest
dich vor dem Ju-Ju-Zauber?«
Hadé nickte
und trocknete ihre Tränen.
»Das war
in der letzten Nacht in meinem Bett!« Sie reichte Linda einen kleinen, faustgroßen
Gegenstand. Sie erschrak, als sie die kleinen verdorrten Beinchen und Ärmchen erkannte,
die aus dem borstigen vertrockneten Haarklumpen hervorragten. Dann erkannte sie
das Gesicht, die runzlige Fratze des toten Äffchens, und unterdrückte einen Schrei.
»Das ist
Mahamas Ju-Ju«, erklärte Hadé. »Heute Pavianbaby und morgen Doudou!«
Mit Mühe
schluckte sie ihre Tränen, und Linda gab ihr Zeit, wieder zu Atem zu kommen.
»Und jetzt?«,
fragte sie schließlich vorsichtig, obwohl sie die Antwort schon kannte.
»Ich muss
zurück«, schluchzte Hadé. »Madame schickt mich weg. Es war alles umsonst. Meine
Reise, die Wüste, das Meer, das Leben bei Madame. Und Doudou bleibt hier …«
Ihre Worte
erstarben in Tränen. Linda suchte nach Worten, mit denen sie trösten konnte, doch
es fielen ihr keine ein. Was sollte sie ihr sagen, der Frau aus Afrika, deren Träume
vom europäischen Paradies zerplatzt waren, deren Leben keine Zukunft zu haben schien,
deren Reise vorn vorne begann.
»I don’t
give up. Never!«, stammelte Hadé schließlich. »Ich habe 500 Euro, von denen Mahama
nichts wissen kann. Damit fange ich an, zu arbeiten. Und dann ich komme zurück und
hole Doudou. Ich finde sie, ich bin ihre Mutter.«
Linda staunte
über die Zuversicht in ihren Worten. Welche Kraft steckte in dieser Frau, und welcher
Wille, wenn sie hier, ganz unten, ganz am Ende den Neuanfang beschloss?
»Ich habe
dir damals versprochen, dir zu helfen, deine Tochter zu finden«, sagte Linda, »und
das werde ich auch weiterhin tun. Sie kann nicht spurlos verschwunden sein!«
Hadé nickte
dankbar.
Alan spürte keine Schmerzen, als
er zu sich kam.
Er spürte
überhaupt nichts, keine Arme, keine Beine, keine Finger, keine Zehen.
Sein Körper
schien taub, er versuchte, sich zu bewegen, doch es schien, als drückten ihn zentnerschwere
Gewichte nieder.
Was er sah,
war wie durch einen milchigen Schleier getrübt.
Der Raum
war hell und still. Er hörte nur ein seltsames Blubbern und Röcheln und vermutete,
dass es das Geräusch seines eigenen Atems war. Die Luft, die in ihn strömte, schien
seltsam frisch und kühl zu sein.
Er versuchte,
klarer zu sehen und erkannte eine Gestalt, die neben ihm saß, sah den Schatten einer
Hand, die sich auf seine Stirn zu legen schien. Fühlen konnte er es nicht.
Er hörte
eine Stimme, ohne die Worte zu verstehen. Es war die sanfte Stimme einer Frau, die
seinen Namen flüsterte.
Seine Lippen
formten ein Wort, nur zwei Silben, einen Namen.
Lin-da …
Er versuchte
zu lächeln.
Ulla ergriff
seine Hand. Dann schlief er wieder ein.
Linda ließ etwas Zeit verstreichen.
Sie hatte vor, mit Hadé noch über etwas anderes zu sprechen, etwas, was ihr nicht
aus dem Kopf gegangen war, seit sie mit ihr bei dem Container über den Zaun gestiegen
war. Doch sie wollte versuchen, Hadé selbst den Anfang machen zu lassen.
»Hast du
…«, begann sie vorsichtig, »mir nicht noch etwas zu sagen? Etwas, was ich vielleicht
schon längst weiß …?«
»Was?«,
fragte Hadé. »Keine Ahnung.«
»Du kannst
mir vertrauen. Von mir wird niemand etwas erfahren. Ich glaube nämlich nicht, dass
du Lene Grandel mit Absicht erschlagen hast!«
Hadé stockte
der Atem. »Du weißt? Aber woher?«
»Denk doch
mal nach«, sagte Linda sanft. »Woher kanntest du den Weg über den Zaun? Das war
so eindeutig! Du musstest schon einmal da gewesen sein. Ich habe darüber nachgedacht,
während ich allein im Container festsaß. Außerdem: Pulle, der Mann, den die Polizei
zuerst verdächtigte, hat dich gesehen, aber nicht erkannt.«
Sie schwieg
und ließ Hadé Zeit, zu antworten. Sie wollte sie nicht in die Enge treiben, sondern
ihr Gelegenheit geben, von selbst zu erzählen, was geschehen war.
»Es stimmt«,
begann Hadé schließlich. »Ich habe die alte Frau erschlagen. Aber nicht mit Absicht.
Es ging so schnell.«
»Willst
du es mir erzählen? So wie du mir deine ganze Geschichte erzählt hast?«
Hadé nickte
…
73
Es hat Nebel gegeben am See,
wie
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