Verschleppt: Linda Roloffs sechster Fall (German Edition)
irgendwo auf einen offenen Zugang zum Werksgelände zu
stoßen. Sie bückte sich und befühlte das niedergetretene Gras, es war noch frisch,
nicht vertrocknet, und sie wusste durch Alans Schule im Busch, dass dies auf eine
junge Spur hindeutete. Hier musste erst vor kurzem jemand entlang gegangen sein.
Sie dachte
an den Landstreicher.
Der Untergrund
war trocken und hart, sie konnte bei den schlechten Lichtverhältnissen weder Fußabdrücke
noch Reifenspuren erkennen, doch der Pfad war breit genug für eine Vespa. Ihre Augen
hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und sie entdeckte die hell leuchtenden Spitzen
abgeknickter Zweige im Gebüsch, ungefähr in der Höhe einer Lenkstange oder eines
Rückspiegels. Hinter einer Wegbiegung, die um ein dichtes Weißdorngestrüpp herum
verlief, sah sie die Vespa an einem Weidenstamm lehnen.
Pulle! Wohin
war er von hier aus gegangen? Sicher zum Kieswerk! Immerhin hatte sie ihn ja dort
gesehen. Vorsichtig tastend schlich sie weiter den Pfad entlang, als plötzlich ein
Loch im Zaun auftauchte. Das Maschengeflecht war aufgeschnitten und nach innen gebogen
worden, ein größerer Haufen Gesteinsschutt verhinderte, dass das Loch vom Betriebsgelände
aus bemerkt werden konnte.
Linda schlüpfte
hindurch, huschte um die Geröllhalde herum und blickte auf die düster glänzende
und von leichtem Windhauch gekräuselte Seefläche. Rechter Hand sah sie den von schlammigen
Wegen und Pfützen überzogenen Innenhof des Kieswerks vor sich, schwach von der einsamen,
orange glühenden Laterne erleuchtet.
Hohe Halden
mit Bruch und grobem Schotter, von halb zerfallenen Mauern eingerahmt, türmten sich
zu ihrer Linken, daran schlossen sich Kieslager unterschiedlicher Körnung an. Lagerschuppen,
ein Gewirr aus Förderbändern, ein Kran, Silos und mehrere Lastwagen machten das
Gelände fast unüberschaubar – wo mochte Jakob Eberle stecken? Dort drüben zwischen
den Gesteins- und Sandhalden hatte sie den Wohnsitzlosen vor wenigen Minuten gesehen.
Wohin war er verschwunden?
Gebückt
schlich sie an den Geröllhalden vorbei, von denen einige flache mit dunklen Plastikplanen
abgedeckt waren. Das Licht reflektierte ihre glänzende faltige Oberfläche. Linda,
neugierig geworden, hob eine der Planen an und entdeckte darunter ein Durcheinander
von Monitoren, PC-Gehäusen, Platinen, Lautsprecherboxen, Kabeln und Fernsehern.
Was hatte der Elektronikschrott auf dem Gelände des Kieswerks zu suchen? Hatte Reiter
zusätzlich ein Depot für Elektromüll angelegt – eine Wertstoffsammelstelle?
Während
sie darüber nachdachte, stolperte sie über eine Schubkarre, die im Weg stand. Das
Poltern und Scheppern, als sie umfiel, durchschnitt die Stille der hereinbrechenden
Nacht, und Linda fuhr erschrocken zurück. Mit einem Mal bekam die Angst in ihr die
Oberhand. Was – verdammt – wenn dieser Landstreicher nicht nur ein Zeuge war, sondern
die alte Frau wirklich auf dem Gewissen hatte? Was, wenn er plötzlich vor ihr auftauchte?
Sie vermisste ihre Handtasche mit dem Pfefferspray, den sie nach einer unheimlichen
nächtlichen Begegnung am Tübinger Schloss immer bei sich trug. Zu spät, sie hatte
die Tasche im Auto gelassen.
Sie blieb
stehen und lauschte in die immer düster werdende Nacht. Nichts. Stille. Nur das
leise Dümpeln des nahen Baggersees und das Schnarren der Kormorane auf ihren Schlafplätzen.
Sie war allein.
Linda beobachtete
die Stelle, an der sie Pulles Gestalt gesehen hatte, schlich langsam weiter und
tastete sich an einer der mannshohen Betonmauern entlang, die eine der größeren
Bruchhalden von drei Seiten umgab. Plötzlich – am Ende der rissigen Mauer – ein
Schatten, eine Bewegung, eine Berührung! Sie unterdrückte einen Aufschrei, als sie
mit der Gestalt zusammenstieß, die im selben Moment um die Ecke bog.
Die Gestalt
schreckte ebenfalls zurück, stieß ein kehliges Geräusch aus, und Linda erkannte,
dass sie einer Frau gegenüber stand. Die andere hatte sie entsetzt am Oberarm gefasst,
um nicht zu stolpern, Linda hielt sich ihrerseits an ihren Schultern fest und nahm
einen deutlichen Geruch nach Schweiß und angestrengtes Atmen wahr. Sie konnte die
Gesichtszüge nicht erkennen, wohl aber ein wallendes Gewand und eine seltsame Kopfbedeckung.
»Wer sind
Sie, was machen Sie hier?«, zischte Linda.
»Bitte nix
tun, nix schlagen!«, hörte sie einen fremden Akzent in der zitternden Stimme. Die
andere hatte offensichtlich mindestens so viel Angst wie sie und duckte sich fast
panisch in
Weitere Kostenlose Bücher