Verschleppt: Linda Roloffs sechster Fall (German Edition)
hastigen Bewegung ab, flüsterte »later« und
tauchte um die Mauerecke herum ab. Schnell wie eine Schlange im hohen Gras war sie
ihrem Blick entschwunden, und als Linda ihr folgte und um die Ecke spähte, sah sie
nichts als die gähnende Nacht des Mauerschattens. Nur das leise Rascheln in den
nahen Weiden verriet, dass Hadé zum Loch im Zaun geflüchtet war.
Während
sie den dunklen Pfad entlang starrte, fiel Linda plötzlich der Eintrag in Lenes
Vogeldossier ein. Schwarze , hatte das gestanden, mit dem Datum von vor drei
Tagen.Sollte die alte Frau an diesem Tag die geheimnisvolle Nigerianerin
beobachtet haben? Das biologische Zeichen für weiblich hinter dem Namen sprach dafür.
Aber warum hatte sie diese Beobachtung in ihren Notizen festgehalten?
15
Linda blieb keine Zeit, über diese
seltsame Begegnung nachzudenken, denn ein anderes Geräusch ließ sie jetzt selbst
hochschrecken. Diesmal kam es von der anderen Seite, direkt hinter ihrem Rücken,
fast zeitgleich mit der harten Berührung, die sie auf ihrer Schulter spürte. Sie
fuhr herum und starrte stumm vor Schreck in das Gesicht des Schwarzbärtigen, den
sie durch das Spektiv im Inneren der Baracke gesehen hatte. Jetzt, da er ihr gegenüberstand,
kam er ihr viel jünger vor. Höchstens Ende 30, schätzte sie.
Woher war
er so plötzlich gekommen? Hatte sie ihn nicht vom Gelände fahren sehen? Sie wand
sich unter dem harten Griff, mit dem er sie gegen die raue Mauer presste.
»Hallo,
wen haben wir denn da? Gut, dass ich noch mal zurückgeschlichen bin! Aber – das
ist ja gar nicht die schwarze Hexe!«, zischte er laut. »Was hast du hier zu suchen?«
Er hatte
Linda laut angeschrieen, und sie ahnte, dass er eigentlich mit Hadé gerechnet hatte.
Mit beiden Händen packte er sie an den Oberarmen und seine Finger krallten sich
in das Fleisch. Kraft und rohe Gewalt gingen von ihm aus, als er sie schüttelte.
Kalte Angst
stieg in ihr hoch, und es wurde ihr bewusst, welches Risiko sie mit ihrem nächtlichen
Eindringen in das Betriebsgelände des Kieswerks eingegangen war.
»He, antworte!
Oder ich dreh dich durch unseren Schotterhäcksler!« Sein Gesicht war keine fünf
Zentimeter von ihrem entfernt, und sie erstickte fast unter seinem Ekel erregenden
Mundgeruch. Nach einer lähmenden Schrecksekunde hatte sie wieder Mut gefasst. Ihr
fiel ein, dass Hadé sie soeben für eine Polizistin gehalten hatte und bluffte:
»Das sollten
Sie besser nicht tun, und wenn Sie nicht meine Kollegen auf dem Hals haben wollen,
lassen Sie mich besser los!«
»Kollegen?
Welche Kollegen? Bist du von den Bullen?«, bellte er, und sie spürte, wie die Klammer
um ihre Arme nachließ.
»Kriminalpolizei!«,
stieß sie mit überzeugender Stimme hervor. »Mordkommission! Und Sie sollten sofort
aufhören, die Ermittlungen zu behindern, sonst haben Sie morgen ziemlich viel Ärger
am Hals! Schon mal was von Widerstand gegen die Staatsgewalt gehört?«
Er ließ
sie los, stand aber noch immer so breitbeinig vor ihr, dass sie keine Chance zur
Flucht hatte.
»Dann können
Sie sich sicher ausweisen?« Ha – er war schon mal zum Sie übergegangen!
»Natürlich!«
Sie zog ihr Portemonnaie heraus und hielt ihm für einen Augenblick ihren Presseausweis
unter die Nase. Geschickt verdeckten ihre Finger dabei die Schrift so, dass nur
das P und ihr Foto zu sehen waren, den Rest verwischte die Dunkelheit. Der
Bluff gelang offensichtlich, denn der Schwarzbärtige schwieg zunächst betroffen,
stieß dann ein »schon gut!« hervor. Dann sagte er:
»Trotzdem,
Sie sind hier auf Privatgelände. Was suchen Sie hier überhaupt? Haben Sie einen
Durchsuchungsbefehl oder so was?«
»Wie kommen
Sie darauf, dass wir etwas suchen?«, fragte Linda zurück und wählte bewusst die
Mehrzahl. Sollte der Typ ruhig glauben, dass sie nicht allein hier war.
»Na, warum
machen Sie sich dann hier zu schaffen? Zum Baden ist es ja noch ein bisschen zu
kalt.«
»Ist das
im Sommer ein Badesee?«
»Nein, eigentlich
nicht. Aber es kommen trotzdem abends und an den Wochenenden Leute her. Wir haben
zwar Verbotsschilder aufstellen lassen, aber das ist denen egal. Sie verscheißen
das Ufer und machen Feuer, wie es ihnen passt. In diesem Sommer lassen wir immer
nach Feierabend die Hunde raus.«
»Hunde?«
Der Schwarzbärtige
nickte und zeigte auf eine der Baracken, vor der sie einen Drahtverhau ausmachen
konnte.
»Zwei Dobermänner
und einen Ridgeback. Kampfhunde, auf scharf dressiert«, erklärte er mit stolzem
Ton in
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