Verschleppt: Linda Roloffs sechster Fall (German Edition)
überrascht.
»Willst
du mir nicht die ganze Geschichte erzählen?«, fragte Linda.
Hadé nickte.
Und begann …
22
Die Frau hat ihr krauses Haar
zu zahlreichen Zöpfen geflochten, die wie kurze Antennen von ihrem Kopf abstehen.
Sie ist jung, Mitte 20, hat ein schmales, glattes Gesicht ohne Narben. Sie trägt
um die schlanken Hüften einen in den Farben gelb, rot und grün gehaltenen Iro, jenes
bodenlange westafrikanische Kleidungsstück, das man in den französisch sprechenden
Ländern Boubou nennt, dazu als Bluse eine ebenfalls bunte Buba, passenden farbigen
Perlenschmuck aus Plastik und hochhackige gebrauchte italienische Schuhe, mit denen
sie im roten Schlamm der Dorfstraße immer wieder umknickt oder versinkt.
Das Dorf
in Edo State liegt nicht weit von ihrer Heimatstadt Benin City entfernt, eine Tagesreise
östlich von Lagos. Eigentlich gehört es sogar noch zur Stadt, auch wenn die Häuser
nur noch Hütten sind, und die einzige richtige Straße nicht mehr als ein von Schlagloch
zu Schlagloch holpernder Schlickpfad.
Hadé ist
auf dem Weg in ihre Zukunft, wie ihre große Schwester, die schon vor zwei Tagen
in das Dorf gegangen ist, um sich den Segen des Ju-Ju-Priesters zu holen, der mit
seiner Magie über ihre gefährliche Reise und über ihren Körper, ihr Leben wachen
würde. Sema hat ihr von dem Ritual erzählt, davon, dass er ihr drei Zöpfe abgeschnitten,
Schamhaar abrasiert und Blut abgezapft hat, um für die Zukunft Macht über sie zu
besitzen und sie für alle Zeit vor bösen Dingen zu beschützen.
Er hat kein
Geld verlangt, nur eine Handvoll Kaurimuscheln, ein totes schwarzes Huhn und eine
Flasche Gin. Und Blut von ihrer Scham, aus den letzten roten Tagen. Hadé hat das
alles in dem bauchigen Korb verstaut, den sie auf ihrem Kopf trägt. Das Huhn ist
frisch geschlachtet worden, und Blut tropft aus dem Korb auf ihre rechte Schulter.
Den Gin hat sie einem Straßenhändler abgekauft, und sie ahnt, dass der Inhalt der
Flasche gepanscht ist.
Ihre Schwester
hat ihr auch von dem Schwur erzählt, den sie leisten muss, den Schwur, jede Arbeit
zu tun, die man ihr anbietet und keinem Menschen davon zu erzählen. Den Schwur,
ihren Arbeitgebern gehorsam zu sein und ihnen den Anteil ihres Lohnes abzugeben,
den sie fordern.
Die Männer,
die ihnen die Reise in die Zukunft ermöglichen, riskieren ihr Leben für sie und
haben Respekt, Gehorsam und Belohnung verdient, hat Sema gesagt. Der Ju-Ju-Schwur
macht die Männer sicher, dass sie ihre gefahrvolle Mission ohne Risiken ausführen
können, denn der Schwur ist heilig.
Sema hat
ihn geleistet, denn sie will das erreichen, was so viele ihrer Freundinnen auch
schon erreicht haben: Arbeit und Sicherheit in Europa. In wenigen Monaten wird auch
sie ihre Familie in Lagos mit Geld unterstützen können, die Armut würde ein Ende
haben. Und wie ihre große Schwester träumt auch Hadé von dem, was ihnen Mahama in
Benin City versprochen hat: ein Flug nach Europa, ganz sicher Arbeit in Deutschland
und vielleicht ein Studium.
Mahama ist
ein guter Freund ihres Vaters. Sogar irgendwie mit ihm entfernt verwandt. Der Sohn
eines Vetters ihres Vaters. Immer elegant gekleidet, dunkler Anzug, weißes Hemd,
Krawatte, schwarze Lackschuhe, die selbst im Staub der Straßen von Benin City noch
glänzen. Er ist das, was man einen Geschäftsmann nennt. Handelt mit Computern und
anderen Elektrogeräten, und in seinem glatt rasierten, freundlichen Gesicht spielt
immerzu ein Lächeln. Nur seine Augen lachen nicht, sie sind kalt und grau. Mit seiner
lachenden Stimme hat er ihrem Vater vom Leben in Europa erzählt, von den hellen
Städten, den freundlichen Menschen, und von der Arbeit, die es dort gibt.
Er hat ihm
das Flugticket gezeigt, das er für die Tochter einer anderen Familie besorgt hat,
und ein Foto von der Universität, an der das Mädchen studieren würde. Die Reisekosten,
so hat Mahama verkündet, müssten nicht von der Familie aufgebracht werden. Diese
Kosten würden er und seine Freunde vorstrecken, die Frauen könnten es in wenigen
Wochen zurückbezahlen, da sie in Europa gut verdienen würden.
»Es ist
gut für euch, wenn eure Töchter in Europa arbeiten«, hat Mahama ausgeführt, »es
kostet euch kein Geld, und von dem, was sie dort verdienen, schicken sie euch genug,
um davon zu leben.«
Innerhalb
von drei Monaten, so hat Mahama geschlossen, würden Hadé und Sema in Deutschland
so viel verdienen, dass sich der Vater ein Haus oder ein Auto kaufen könne. Das
sei wahr,
Weitere Kostenlose Bücher