Verschleppt: Linda Roloffs sechster Fall (German Edition)
an. Er hatte sich nicht getäuscht! Die undeutliche
graue Silhouette eines Nashorns näherte sich dem Wasser. Es musste zugewandert sein,
denn die beiden von seinem Onkel ausgewilderten Tiere waren ihres Horns wegen abgeschlachtet
worden.
Bald schon
stand der Prachtkerl von einem Spitzmaulnashornbullen am See, vorsichtig flemend,
und trank. Alan Scott genoss den Anblick des Tieres, dessen Körper sich auf der
glatten Wasseroberfläche spiegelte. Listig blickten die kleinen schwarzen Augen
zu ihm herüber, doch mit seinem schlechten Sehsinn erkannte das Rhino ihn nicht.
Schließlich
trabte der Bulle um das Loch herum und setzte dabei seine Urinmarkierung. Er schien
das Land zu seinem Revier zu erklären, auch durch Scharren in seinen Kothaufen –
was rote Staubwolken aufwirbelte.
In den letzten
Jahren hatten sich die Nashornpopulationen im südlichen Afrika nahezu ungestört
erholen und entwickeln können, doch dann war der Nashornkrieg erneut ausgebrochen,
heftiger denn je. Alans südafrikanischer Freund Jeff van Rossen hatte ihm erzählt,
dass man in allein 2010 in Südafrika 333 Nashörner gewildert hatte. Sogar in das
Iziko South Africa Museum waren Wilderer eingebrochen und hatten präparierten Tieren
die Hörner abgesägt. Im überwachten Schutzgebiet von Umfolozi, in dem Alan vor vielen
Jahren gearbeitet hatte, waren innerhalb von 12 Monaten 15 Tiere abgeschlachtet
worden.
Der Preis
für Rhinohorn war höher denn je, 2000 Euro bekam man auf dem Schwarzmarkt in Vietnam
für nur 100 Gramm wertloses Nasenhorn. Die Zauberkräfte, die man ihm nachsagte,
besaß es nicht, denn die Substanz eines Rhinohorns besteht aus nichts anderem als
verklebtem Keratin. Mit demselben Erfolg könnte man also auch Fingernägel, Haare
und Pferdehufe als Potenz steigernde Medizin verkaufen.
Alan beschloss,
ein besonderes Augenmerk auf das Tier zu haben und mit niemandem über seine Anwesenheit
auf Ojumamuya zu sprechen.
24
Die Nacht war nicht nur kurz gewesen,
Linda hatte auch verdammt schlecht geschlafen. Hadés Geschichte hatte sie beschäftigt,
und obwohl es schon weit nach Mitternacht gewesen war, hatte sie, um sich abzulenken,
noch die Reportage im National Geographic über die illegale Verschiebung
von Elektroschrott in die Dritte Welt gelesen.
Lene Grandel
hatte die Seite im Heft, auf der der Artikel begann, mit einem Notizzettel als Lesezeichen
markiert. Auf dieses Stück Papier hatte sie etwas gekritzelt, was Linda als ›MV
Cayelsa Star‹ entzifferte. Jetzt war sie zu müde, um zu recherchieren, und steckte
den Zettel in das Heft zurück.
Sie hatte
ihren Wecker auf halb sechs Uhr gestellt, denn sie wollte noch vor Sonnenaufgang
im Kieswerk sein, um nicht Zoto oder anderen Mitarbeitern Reiters zu begegnen. Sie
hatte keine Ahnung, wann die Männer dort mit ihrer Arbeit begannen und wollte auf
Nummer sicher gehen. Im regelmäßigen Abstand einer halben Stunde war sie aufgewacht,
hoch geschreckt, hatte nervös die Beleuchtung des Weckers angetippt, um erschöpft
zurückzusinken. Noch zwei Stunden Schlaf.
Sie dachte
an Alan Scott und lag weiter wach. Dann erschien das Gesicht von Jens Bosch vor
ihren Augen. Wie in Trance glitten ihre Hände unter ihr Nachthemd und streichelten
ihre nackte verschwitzte Haut.
Sie schlief
ein, zehn Minuten bevor der Wecker schrillte.
Käthe Besserer
hatte schon Kaffee gemacht, als sie in die Küche kam.
»Gut geschlafen?«,
fragte sie. »Möchtest du ein Ei zum Frühstück?«
»Geschlafen
hab’ ich ziemlich unruhig. Und danke, kein Ei. Nur eine Tasse Kaffee, ich bin das
so gewöhnt.«
Linda setzte
sich an den Küchentisch und blätterte im Südkurier.
»Die suchen
den Pulle«, bemerkte Käthe. »Der Ärmste. Hat so schon nichts vom Leben, und jetzt
auch noch das.«
»Du glaubst
also nicht, dass er etwas mit Lenes Tod zu tun hat?«
Käthe schüttelte
den Kopf. »Der? Im Leben nicht! Der kann doch keiner Fliege was zuleide tun.«
»Na ja,
sie suchen ihn ja als Zeugen. Vielleicht hat er ja auch wirklich was gesehen.« Linda
trank einen Schluck Kaffee. Koffeinfrei, vermutete sie, der würde nicht wirklich
helfen. »Diese Nichte von Lene heißt Stefanie, ja?«, fragte sie.
»Ja. Stefanie
Makesch. Warum?«
»Ich hab
drüben ein Buch gefunden, einen Krimi. Todesnacht am Niger . Da steht ’ne
Widmung drin von einer Stefanie an ihre Tante Lene.«
»Das muss
sie sein. Ich weiß sonst von keiner Verwandten.« Käthe überlegte. » Todesnacht
am Niger , sagtest du? Das ist doch das
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