Verschleppt: Linda Roloffs sechster Fall (German Edition)
des Boubou über die Knie und stieg mit
ihren Füßen geschickt in Astgabeln und auf die tragfähigen Zweige der Buche.
Auf Höhe
des Zauns angelangt nahm sie das Tuch, mit dem sie ihre Haare umwickelt hatte, ab
und legte es in dreifacher Lage über den Stacheldraht. Ohne zu zögern schob sie
ihren Oberkörper Richtung Zaun, streckte die Arme nach vorne, suchte mit ihren Händen
Halt auf dem Tuch zwischen den Drahtspitzen, holte mit den Füssen Schwung und ließ
sich wie ein Turner beim Pferdsprung über das Hindernis gleiten. Hadé landete auf
den Füßen im dichten Bewuchs der anderen Seite.
Linda hatte
den Atem angehalten. Die Afrikanerin rappelte sich auf, zog den am unteren Ende
zerrissenen Boubou zurecht und winkte Linda zu. Ihr Herz klopfte, als sie sich mit
den Spitzen ihrer Turnschuhe den Weg auf den Baum suchte. Ihre Füße fanden in engen
Astmulden Halt, ihre Finger klammerten sich um glatte Rinde, sie nahm Knie und Unterarme
zu Hilfe und hievte sich keuchend nach oben. Weiter und weiter ging es, höher und
höher, und noch ein Stück, jetzt der linke Fuß und noch einmal der rechte. Die dünneren
Zweige hinterließen rote Rillen in ihren Fingern, doch sie ignorierte den Schmerz.
Jetzt war
sie auf dem Ast, von dem aus Hadé den Sprung gewagt hatte. Ihre linke Hand klammerte
sich an den Ast über ihr, mit der rechten suchte sie Halt auf dem Stacheldraht,
über den Hadés Tuch hing. Zwischen zwei Haken des Stacheldrahts fand sie genügend
Platz, um auch die linke Hand dort abzustützen, sie drückte ihre Ellbogen durch
und stemmte dadurch ihren Oberkörper so weit nach oben, dass sie mit der Seite ihres
rechten Fußes zwischen den Stacheldrahtspitzen zu liegen kam. Sie zog das linke
Bein vom Ast nach, holte Schwung und setzte in einem stümperhaften Sprung über den
Zaun. Dabei verhedderte sich sowohl der Ärmel ihrer Jacke als auch das Hosenbein
im Stacheldraht, doch das Gewicht ihres Körpers, gepaart mit der Erdanziehungskraft,
riss sie nach unten, und sie stürzte unsanft kopfüber mit einem Aufschrei auf den
Boden.
Ihre Schulter
schmerzte, die Jeans waren zerrissen, ein Stück des Jackenärmels hing wie ein Fähnchen
auf der Pfostenspitze des Zauns, Blut floss in einem dünnen Rinnsal über ihr Schienbein
und rann in die Strümpfe.
»Alles gut?«,
fragte Hadé und bückte sich besorgt nach ihr.
»Es geht
schon«, stöhnte Linda und stand auf. Hadés Kopftuch hing im Stacheldraht fest und
war auf die Schnelle nicht von dort los zu bekommen, Linda rieb sich die schmerzenden
Stellen und drückte den Stoff der Jeans auf die blutende Wunde an ihrem Knie.
»Hier geht
wieder zurück«, sagte Hadé und zeigte auf mehrere Baumstümpfe, die auf ihrer Seite
des Zaunes aufeinander gestapelt an einem der Pfähle lehnten und eine natürliche
Treppe bildeten. Es musste schon jemand anders von innen den Weg über den Zaun gesucht
haben, dachte Linda und suchte sich hinter Hadé durch das Dickicht einen Weg.
Die Afrikanerin
sah die helle Außenwand des Containers zuerst. Linda wunderte sich nicht mehr darüber.
Hier in der Wildnis, und war es auch nur ein kleines Wäldchen auf der Höri, war
ihr die Frau aus Afrika einfach überlegen.
»Da!«, jubelte
Hadé.
Linda zischte
»Pst!« und legte den Zeigefinger auf den Mund. Leise gingen sie weiter und kamen
nach wenigen Metern auf einen kleinen, frei geräumten Platz, in dessen Mitte der
Container stand.
»Wir müssen
vorsichtig sein!«, flüsterte Linda und zog Hadé mit sich. Sie umschlichen den Container.
Er hatte ungefähr die Größe einer Garage, an einer der Schmalseiten gab es eine
Tür, an der zusätzlich zum Schloss ein schwerer Riegel vorgeschoben war, sonst entdeckte
Linda außer einem schmalen vergitterten Schlitz keine Öffnungen. An einer der Längsseiten
ragte ein kleines Metallrohr nach oben, sicher ein Kamin, denn im Winter musste
das Versteck beheizt werden. Daneben entdeckte Linda eine etwa zehn mal zehn Zentimeter
große Fläche, die von einer Lamellenplatte verdeckt war. Das könnte ein Lüftungsgitter
sein, dachte sie. Ob es im Dach weitere Lichtluken oder Luftschlitze gab, konnten
sie vom Boden aus nicht erkennen.
Die beiden
Frauen sahen sich an.
Linda hatte
Hadé eingeschärft, nichts zu überstürzen. Sie wussten nicht, wie viele Menschen
dort eingesperrt waren. Wie sollten sie herausfinden, ob Hadés Tochter darunter
war? Hadé hatte erzählt, dass man dort drinnen nichts hörte von dem, was sich draußen
abspielte. Sie mussten
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