Verschleppt: Linda Roloffs sechster Fall (German Edition)
Arbeitsplatz sein, sagt Madame. Das Zimmer ist einfach und klein. Ein Bett,
ein Schrank, ein kleines Bad. Ein CD-Spieler, zwei Poster an der Wand, eine Packung
Kondome. Wer sein Zimmer nicht in Ordnung hält, bezahlt.
An Madame.
Bego, der
›Good Boy‹, wie Madame ihn nennt, wird auf die Mädchen aufpassen. Dafür bezahlen
sie ebenfalls. Nicht bei Madame. Direkt bei Bego. Mit ihrem Körper.
Bego zeigt
ihnen den Platz auf der Straße, wo sie auf ihre Kunden warten.
Madame gibt
ihnen Arbeitskleidung. Kurz, durchsichtig, dünn. Sie werden frieren. Solange sie
auf Kunden warten. Wer nicht frieren will, sorgt schnell für Kunden. Das ist der
Job. Sie bezahlen für die Arbeitskleidung bei Madame.
100 Euro.
Jede Woche.
Madame und
der Good Boy kontrollieren sie. Wer sich etwas zu Schulden kommen lässt, wird bestraft.
Geschlagen. Unterdrückt. Vergewaltigt.
Hadé erkennt
schnell: sie hat keine Rechte. Und sie muss Geld verdienen, sehr viel Geld.
50 Euro
bekommt Madame für das Essen.
Manchmal
kochen die Mädchen selbst. Mit afrikanischen Gewürzen. Das sind Festtage. Tage,
die sie an zu Hause erinnern.
Madame droht.
Wenn die Mädchen ungehorsam sind, leiden ihre Familien zu Hause, denn der Arm von
Madame reicht bis nach Afrika. Ihre Macht ist groß. Sie besitzt nicht nur die Ausweise
der Mädchen, sie kennt auch den Ju-Ju-Zauber, der auf ihnen lastet. Und sie weiß
ihn für ihre Zwecke zu nützen.
Hadé zahlt.
Täglich
für die Wohnung und das Essen, jede Woche für die Kleider. Und sie tilgt ihre Schulden.
Jeden Monat.
Arbeitet
mit ihrem Körper.
Jeden Tag.
Das also
ist das Paradies, das ihr Mahama in der Heimat verheißen hat.
Sie weiß,
dass es in Wirklichkeit die Hölle ist.
Inzwischen
heißt sie Nelly.
Diesen Namen
hat Madame für sie ausgesucht, am Tag, als sie zu ihr kam. An jenem Tag, als ein
Jahr und elf Monate seit ihrem Aufbruch aus Nigeria vergangen waren.
64
Alan Scott fühlte sich wie damals
in Mathare Valley.
Doch heute
würde die Begegnung nicht so glimpflich ausgehen. Es gab keinen Massai, der ihn
retten würde. Immer mehr AK-47 waren aufgetaucht, und Alan war sich sicher, es mit
organisierten Kriminellen zu tun zu haben. Eine Bande, die den Schmuggel der Elektroware
vor Ort durchführte und ihre schmutzigen Finger sicher auch noch bei anderen Verbrechen
im Spiel hatte.
Auf ein
Menschenleben mehr oder weniger kam es hier nicht an.
Mahama –
falls es der elegant Gekleidete war – wusste, weshalb er hier war. Dass sie ihm
nur die paar Nuria abnehmen würden, die er bei sich trug, blieb als letzte Hoffnung.
Doch Alan ahnte, dass sich das hier wohl kaum wie ein harmloser Überfall abspielen
würde. Sein Leben hing an einem seidenen Faden, und der bestand in Ullas Hilfe.
Wenn sie jedoch nicht sofort mit Johnny Cash hier auftauchen würde, hatte er nicht
die geringste Chance, mit heiler Haut aus der Sache heraus zu kommen.
Während
er jede der Bewegungen Mahamas taxierte, entgingen ihm die Angreifer, die von hinten
über ihn herfielen, ihn mit Faustschlägen traktierten und zu Boden warfen. Die Übermacht
war zu groß, um sich dagegen zu wehren. Alan schützte sein Gesicht mit den Händen,
spürte einen heftigen Schlag zwischen rechter Schulter und Genick und fiel in ein
tiefes Loch.
Linda dachte nach.
Auf Hadé
zu hoffen, machte wenig Sinn. Selbst wenn sie zum Container zurückkam, wie sollte
sie ihr helfen? Außerdem war sie sicher so durcheinander, dass sie sich hilflos
auf die Suche nach ihrer Tochter machte.
Sie schloss
die Augen und lehnte den Kopf zurück. Strenger Geruch stieg ihr in die Nase, und
sie zog ihre lange Jacke über ihre Beine, um sich gegen die Kälte des kahlen Gefängnisses
zu schützen. Vermutlich hatten die Schleuser alles ausgeräumt, was diesen Container
als Wohnraum auswies. Der Geruch war eine herbe Mischung aus Desinfektionsmittel
und Urin, wie er in manchen öffentlichen Toiletten herrschte, und sie ahnte, dass
der Container frisch gereinigt und desinfiziert worden war. Frische Luft schien
jedoch nur über die Lamellen einzuströmen, die sie von außen in der Containerwand
gesehen hatte.
Linda biss
nervös auf ihre Unterlippe. Was, wenn Hadé Zoto in die Hände fiel? Was hinderte
ihn und Reiter daran, die Afrikanerin einfach zu beseitigen, ihre Leiche im Baggersee
zu versenken und Linda ihrem Schicksal zu überlassen?
Die Männer
hatten schon einen Mord auf dem Gewissen, dessen war sie sich inzwischen sicher.
Lene Grandel hatte ihre Neugier
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