Verschlüsselte Wahrheit - Inspektor Rebus 05
er.
»Auf gar keinen Fall«, erwiderte Michael. »Geh lieber nach Hause, ja?«
Auf dem Weg zum Krankenwagen gaben Michaels Beine plötzlich nach. Also trugen sie ihn, wie man einen verletzten Spieler vom Feld bringt, schlossen die Türen und fuhren mit ihm davon. Rebus bedankte sich bei dem Arzt, dem Kapitän und bei Hart.
»Furchtbare Sache«, bemerkte Hart. »Haben Sie eine Erklärung dafür?«
»Mehrere«, antwortete Rebus.
Er ging nach Hause, um in der Dunkelheit des Wohnzimmers nachzudenken. Sein ganzes Leben schien plötzlich in Trümmern zu liegen. Irgendwer hatte ihm in dieser Nacht eine Botschaft geschickt. Entweder über Michael oder man hatte Michael schlicht mit ihm verwechselt. Schließlich sagten die Leute doch immer, sie sähen sich sehr ähnlich. Da die Männer zur Arden Street gekommen waren, arbeiteten sie entweder mit sehr alten Informationen oder sie wussten von seiner Trennung von Patience, was wiederum bedeuten würde, dass sie äußerst gut informiert waren. Doch Rebus vermutete das Erstere. An der Türklingel stand immer noch Rebus, wenn auch auf einem Papierstreifen vier weitere Namen aufgeführt waren. Das musste sie einen Moment lang irritiert haben. Doch sie hatten beschlossen, trotzdem anzugreifen. Warum? Hieß das, dass sie verzweifelt waren? Oder war ihnen jede Geisel recht, um die Botschaft rüberzubringen?
Botschaft empfangen.
Und beinah verstanden. Beinah. Sie meinten es ernst, todernst. Erst Brian, jetzt Michael. Er hatte keinen Zweifel, dass die beiden Vorfälle zusammenhingen. Offenbar wurde es Zeit zu handeln und nicht einfach nur abzuwarten, was sie sich als Nächstes ausdenken würden. Außerdem wusste er, was er tun wollte. Jenes Bild, das ihm eben durch den Kopf gegangen war, hatte es ihm bewusst gemacht: Sein Leben lag in Trümmern. Irgendwie verspürte er den Wunsch, eine Waffe zu besitzen. Das würde in der Tat das Gleichgewicht wiederherstellen. Er wusste auch, wo er eine herkriegen könnte. Alles von ’ner Matratze bis zum Schießeisen. Ihm wurde bewusst, dass er vor dem Fenster auf und ab ging. Er fühlte sich eingesperrt, konnte nicht schlafen und nichts gegen seinen unsichtbaren Feind unternehmen. Aber irgendetwas musste er doch tun … also beschloss er, ein bisschen mit dem Auto herumzukurven.
Er fuhr nach Perth. Dazu brauchte er so spät in der Nacht über die Autobahn nicht lange. In der Stadt selbst verfuhr er sich ein- oder zweimal (es war niemand unterwegs, den er hätte fragen können, noch nicht mal ein Polizist), bevor er die Straße fand, die er suchte. Sie lag an einem Hang und war nur auf einer Seite bebaut. Hier wohnte Patiences Schwester. Er entdeckte Patiences Auto und fand nur zwei Fahrzeuge davon entfernt einen Parkplatz. Er schaltete Licht und Motor aus, griff auf den Rücksitz nach der Decke, die er mitgebracht hatte, und breitete sie, so gut er konnte, über sich aus. Eine Zeit lang saß er einfach nur da und fühlte sich so entspannt wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Er hatte überlegt, eine Flasche Whisky mitzunehmen, doch er wusste, wie sich sein Kopf dann am nächsten Morgen anfühlen würde. Und da würde er einen absolut klaren Kopf brauchen. Er dachte an Patience, die im Gästezimmer ihrer Schwester schlief. Alles schien weit, weit weg von Edinburgh zu sein, weit weg vom Schatten der Forth-Eisenbahnbrücke. Langsam schlummerte John Rebus ein und schlief ausnahmsweise mal gut.
Als er aufwachte, war es halb sieben am Sonntagmorgen. Er warf die Decke zur Seite, ließ den Motor an und drehte die Heizung voll auf. Ihm war kalt, doch er fühlte sich ausgeruht. Die Straße war menschenleer bis auf einen Mann, der einen hässlichen weißen Pudel spazieren führte, und sich über Rebus’ Anwesenheit zu wundern schien. Rebus lächelte ihn an, während er den ersten Gang einlegte und losfuhr.
10
Er fuhr direkt zum Krankenhaus, wo trotz der frühen Stunde bereits der erste Tee serviert wurde. Michael saß im Bett und hatte seine Tasse auf einem Tablett vor sich stehen. Er wirkte wie eine Statue, die auf die dunkelbraune Flüssigkeit starrte. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Selbst als Rebus hereinkam, sich geräuschvoll einen Stuhl von einem Stapel an der Wand ans Bett zog und sich hinsetzte, rührte er sich nicht.
»Hi, Mickey.«
»Hallo.« Michael starrte weiter vor sich hin. Rebus hatte ihn bis jetzt noch nicht mal blinzeln sehen.
»Du gehst es wohl immer wieder durch, was?« Michael antwortete nicht. »Ich hab das selbst erlebt,
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