Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
sich ihrer Erschöpfung, denn es war sehr anstrengend, den Anschein von Normalität zu wahren.
4
Ein Frühlingssturm brachte zweieinhalb Meter Neuschnee und verwandelte den See in eine frostig-graue Scheibe. Ein paar Einheimische fuhren mit dem Schneepflug darüber, während sich die Kinder, die in ihren Wintersachen wie formlose Stummel aussahen, einen Spaß draus machten, am Ufer Schneemänner zu bauen.
Der breitschultrige, wettergegerbte Lynt unterbrach mehrmals den Schneeräumdienst, um seine Thermoskanne mit Joanies Kaffee aufzufüllen und über den Sturm zu klagen.
Reece hatte ihn auf ihrem morgendlichen Weg zur Arbeit ebenfalls zu spüren bekommen. Er peitschte wütend den Canyon hinunter und über den See, brachte Schnee mit und ließ einen bis aufs Mark frieren. Er schlug gegen die Fenster und heulte mordlustig auf.
Als der Strom ausfiel, warf sich Joanie ihren Mantel über, schlüpfte in ihre Stiefel und schleppte sich höchstpersönlich nach draußen, um den Generator anzuwerfen.
Der heulte mit dem Wind und Lynts Schneepflug um die Wette, bis sich Reece fragte, wie die Leute das hier bloß aushalten konnten.
Es hielt sie zumindest nicht davon ab, hereinzukommen. Lynt ließ den Pflug stehen, um eine Riesenschüssel Rindereintopf zu essen. Carl Sampson kam mit geröteten Wangen hereingeschneit, um Lynt Gesellschaft zu leisten, einen Hackbraten zu verschlingen und anschließend noch zwei Stücke Heidelbeerkuchen.
Andere kamen und gingen. Wieder andere kamen und blieben. Sie alle sehnten sich nach etwas zu essen und nach ein wenig Gesellschaft. Nach menschlicher Wärme und etwas Warmem im Magen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht allein waren. Während Reece grillte, briet, kochte und schnippelte, empfand auch sie das Geplapper um sie herum als beruhigend.
Aber sobald ihre Schicht zu Ende war, würde es kein Geplapper und keine menschliche Wärme mehr geben. Sie musste an ihr Hotelzimmer denken und nutzte ihre Pause, um sich bis zum Gemischtwarenladen durchzukämpfen und neue Batterien für ihre Taschenlampe zu kaufen. Für alle Fälle.
»Das letzte Aufbäumen des Winters«, meinte Mac, während er sie für sie einpackte. »Ich werd welche nachbestellen müssen, die gehen weg wie nichts. Bald gehen mir auch Brot, Eier und Milch aus. Warum decken sich die Leute immer mit Brot, Eiern und Milch ein, wenn es stürmt?«
»Wahrscheinlich, weil sie French Toast machen wollen.«
Er lachte kurz und rau auf. »Wer weiß, vielleicht wollen sie das tatsächlich. Und wie geht’s Ihnen so im Joanie’s? Ich hab’s gar nicht mehr dahin geschafft seit diesem Wetter. Dabei schau ich gern bei allen vorbei, die noch geöffnet haben, wenn wir so zugeschneit werden. Als Bürgermeister halte ich das für meine Pflicht.«
»Der Generator funktioniert, wir haben also durchaus noch geöffnet. Genau wie Sie.«
»Ja, ich schließe den Laden nur äußerst ungern. Lynt kommt mit dem Schneeräumen einigermaßen nach, und die Stromleitungen dürften in ein paar Stunden auch wieder funktionieren. Ich habe mich schon schlau gemacht. Außerdem ist er schon wieder am Abflauen. Der Sturm, meine ich.«
Reece warf einen Blick aus dem Fenster. »Wirklich?«
»Sobald der Strom wieder da ist, hat der Sturm ein Ende. Warten Sie’s ab. Das Einzige, was er uns eingebrockt hat, ist, dass das Dach von Clancys Lagerhalle eingestürzt ist. Aber daran ist er selbst schuld. Es hätte längst repariert werden müssen und er hat den Schnee nicht rechtzeitig runtergeschaufelt. Sagen Sie Joanie, dass ich so bald wie möglich vorbeikomme und nach dem Rechten sehe.«
Eine gute Stunde später hatte sich Macs Vorhersage bewahrheitet. Der Sturm beruhigte sich so weit, dass nur noch ein gereiztes Murmeln zu hören war. Es verging keine weitere Stunde, als auch die Jukebox – die Joanie bewusst nicht an den Generator angeschlossen hatte – wieder aufheulte, kurz stockte, um dann Dolly Parton zu Gehör zu bringen.
Und noch lange, nachdem die heftigen Schneefälle und der wilde Sturm abgezogen waren, sah Reece die düsteren Wolken über den Bergen hängen. Sie ließen sie noch grimmiger wirken und verliehen ihnen etwas Kaltes, Unnahbares.
So gesehen war sie dankbar, in ihr warmes Hotelzimmer zurück zu können, um sie von dort aus zu beobachten.
Sie kochte Unmengen von Eintopf nach Joanies Rezepten, grillte kiloweise Fleisch, Geflügel und Fisch. Am Ende jeder Schicht zählte sie ihr Trinkgeld und steckte es in einen
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