Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
während sie über den schmalen Bach hüpfte. »Na gut, das wahrscheinlich weniger. Ich könnte angeln lernen. Ich könnte mir einen Pick-up kaufen und einmal im Monat zum Einkaufen in den Ort fahren.«
Sie malte sich dieses Leben detailliert aus. Irgendwo in Wassernähe und nicht zu tief in den Bergen. In einem Haus mit vielen vielen Fenstern, sodass man das Gefühl hatte, fast im Freien zu leben.
»Ich könnte mich selbstständig machen. Ich könnte den ganzen Tag kochen und meine Produkte anschließend verkaufen. Zum Beispiel übers Internet. Dazu bräuchte ich nicht mal das Haus zu verlassen. Fehlt nur noch, dass ich jetzt auch noch an Agoraphobie leide.«
Nein, sie würde im Wald wohnen – das gefiel ihr -, aber in der Stadt arbeiten. Vielleicht sogar hier, dann könnte sie weiterhin für Joanie kochen.
»Warte noch ein paar Wochen, das ist besser. Wart ab, wie es läuft. Aber aus dem Hotel musst du raus, so viel steht fest. Das geht nicht mehr lange gut. Aber wo soll ich dann hin? Vielleicht kann ich ja …«
Ihr entfuhr ein Schrei, sie stolperte und landete beinahe auf dem Hintern.
Es war eine Sache, einem Grauhirsch über den Weg zu laufen, aber eine ganz andere, einen Mann in einer Hängematte vor sich zu sehen, der ein aufgeklapptes Taschenbuch auf der Brust liegen hatte.
Brody hatte sie kommen hören – was bei ihren Selbstgesprächen auch nicht weiter schwer war. Er hatte angenommen, dass sie in Richtung See abbiegen würde, doch stattdessen war sie schnurstracks auf seine Hängematte zugelaufen, den Blick auf ihre niegelnagelneuen Wanderschuhe geheftet. Also hatte er sein Buch sinken lassen und sie beobachtet.
Eine Großstädterin, die sich in der Wildnis verirrt hat, dachte er. Mit einem Rucksack, Wanderschuhen und Jeans – wenigstens Letztere wiesen Gebrauchsspuren auf. Und mit einer Wasserflasche.
War das ein Handy, das da aus ihrer Tasche ragte? Wen um alles in der Welt wollte sie von hier aus anrufen?
Sie hatte das Haar zum Pferdeschwanz gebunden, der hinten aus ihrer Baseballkappe hervorlugte. In ihrem blassen Gesicht wirkten ihre dunkelbraunen Augen noch größer.
»Verlaufen?«
»Nein. Ja. Nein.« Sie sah sich um, als käme sie von einem anderen Planeten. »Ich bin einfach nur spazieren gegangen und hab gar nicht gemerkt, dass ich Privatgrund betreten habe.«
»Tja. Wollen Sie einen Moment warten, bis ich mein Gewehr geholt habe?«
»Ungern. Hm, ich vermute, das ist Ihr Haus.«
»Sie haben richtig vermutet.«
»Es ist hübsch.« Sie betrachtete es einen Moment – ein schlichtes Blockhaus mit einer lang geschwungenen Veranda, einem einzelnen Stuhl und einem Einpersonentisch.
»Sehr privat«, fügte sie hinzu. »Tut mir leid.«
»Mir nicht. Ich mag das.«
»Ich meine – Sie wissen ganz genau, wie ich das gemeint habe.« Sie holte tief Luft und spielte mit dem Verschluss ihrer Wasserflasche. Mit Fremden tat sie sich leichter. Es waren die mitleidigen, besorgten Blicke ihrer Freunde, die sie nicht mehr ertragen konnte.
»Schon wieder. Sie starren mich an. Das ist unhöflich.«
Er hob eine Braue. Sie hatte diese Fähigkeit immer bewundert. Ganz so, als ob die einzelne Braue über eine unabhängige Muskelgruppe verfügte. Dann bückte er sich und öffnete unbeeindruckt eine Flasche Bier. »Wer sagt das? Wer bestimmt, was in welcher Kultur unhöflich ist? Die Gesellschaft zur Vorbeugung von Unhöflichkeit? Ich dachte, die gibt’s gar nicht mehr.«
»Oh doch, von einer breiten Öffentlichkeit unbemerkt ist sie nach wie vor aktiv.«
»Mein Urgroßvater war Mitglied, aber das hat uns nur sehr am Rande interessiert, da er ein absolutes Arschloch war.«
»Nun, solche Leute gibt es in jeder Familie oder Gemeinschaft. Am besten, ich lasse Sie in aller Ruhe weiterlesen.«
Sie machte einen Schritt zurück, während er überlegte, ob er ihr ein Bier anbieten sollte. Da es sich dabei um eine noch nie da gewesene Geste handelte, hatte er sich bereits dagegen entschieden, als ein lauter Knall die Luft zerriss.
Sie warf sich in den Matsch und hob die Arme schützend über den Kopf wie ein Soldat im Schützengraben.
Seine erste Reaktion war Belustigung. Typisch Städterin. Aber als er sah, dass sie völlig reg- und lautlos liegen blieb, begriff er, dass mehr dahinter steckte. Er schwang die Beine aus der Hängematte und ging vor ihr in die Hocke.
»Eine Fehlzündung«, sagte er leichthin. »Von Carl Sampsons Lieferwagen. Die reinste Rostlaube.«
»Eine Fehlzündung.«
Er hörte, wie
Weitere Kostenlose Bücher