Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
den Griff bekommen hatte, Teile von ihr, die wieder genesen waren.
Trotzdem würde sie nie mehr so sein wie früher – eine hektische, ehrgeizige Städterin. Aber sie konnte der neuen Reece durchaus etwas abgewinnen. Heute achtete sie viel mehr auf Details, die sie früher nicht einmal wahrgenommen hatte. Auf das Spiel von Licht und Schatten, das Plätschern des Wassers, darauf, wie sich der schwammige, tauende Boden unter ihren Füßen anfühlte.
Sie konnte jeden Moment stehen bleiben und zusehen, wie ein Reiher vom See aufflog, leise wie eine Wolke. Sie konnte zusehen, wie sich das Wasser auf dem See kräuselte, wie es konzentrische Ringe beschrieb, die sich immer weiter ausbreiteten, bis sie die Spitze eines Paddels erreichten, das ein Junge in einem roten Kajak durchs Wasser zog.
Ihr fiel der Fotoapparat erst wieder ein, als der Reiher bereits aufgeflogen war, aber dafür fotografierte sie den Jungen und sein rotes Boot, das blaue Wasser und darin die atemberaubende Spiegelung der Berge.
Sie nahm sich vor, kleine Texte zu jedem Foto zu verfassen, und setzte ihre Wanderung fort. Auf diese Weise gab sie ihrer Großmutter das Gefühl, mit dabei zu sein. Reece wusste, dass man sich zu Hause in Boston Sorgen um sie machte. Aber sie konnte nicht mehr tun, als lange E-Mails zu schicken, ab und an anzurufen und ihre Großmutter wissen zu lassen, wo sie war und wie es ihr ging.
Was Letzteres anbelangte, war sie nicht immer aufrichtig.
Um den See lagen vereinzelt Häuser und Blockhütten, und irgendjemand grillte an diesem Sonntag im Freien. Ein idealer Tag für gegrilltes Huhn, Kartoffelsalat, marinierte Gemüsespießchen, literweise Eistee, kaltes Bier.
Ein Hund schwamm in den See hinaus, einem blauen Ball hinterher, während ein Mädchen lachend am Ufer stand und ihn anfeuerte. Nachdem er den Ball erwischt hatte und zum Ufer zurückgepaddelt war, schüttelte er sich wie wild und bespritze das Mädchen mit Wassertropfen, die die Sonne aufblitzen ließ wie Diamanten.
Der Hund bellte ganz außer sich vor Freude, als das Mädchen den Ball erneut warf, und sprang ins Wasser, woraufhin das Spiel von vorn begann.
Reece holte ihre Wasserflasche heraus und nippte daran, während sie sich vom Ufer entfernte und zwischen dem Feuerdorn spazieren ging.
Vielleicht würde sie ein Reh entdecken oder einen Rothirsch, wenn sie nicht allzu viel Lärm machte. Vielleicht sogar einen Elch – zum Beispiel den von heute Morgen. Auf die Bären, die laut Urlaubsprospekt und Reiseführer in den hiesigen Wäldern lebten, konnte sie getrost verzichten, auch wenn es hieß, dass die meisten äußerst menschenscheu waren.
Denn bei ihrem Glück hätte der Bär bestimmt schlechte Laune und würde sie nur zu gern an ihr auslassen.
Sie beschloss, vorsichtig zu sein und sich nicht zu weit vorzuwagen. Obwohl sie ihren Kompass dabeihatte, würde sie den Wanderweg nicht verlassen.
Hier war es ein ganzes Stück kühler, fiel ihr auf. Die Sonne reichte nicht bis zu den Schneeresten, und das Wasser des kleinen Bachs, auf den sie gestoßen war, musste sich seinen Weg gegen und über die Eisschollen erkämpfen.
Sie folgte dem Bach, lauschte seinem Plätschern, während er weiter taute. Als sie auf Tierspuren und Exkremente stieß, wurde sie ganz aufgeregt. Was waren das für Spuren, was war das für ein Kot? Neugierig holte sie ihren Wanderführer hervor.
Ein Rascheln ließ sie erstarren und sich suchend umschauen. Keine Ahnung, wer sich mehr erschreckt hatte – Reece oder der Grauhirsch -, aber einen Moment lang stockte beiden der Atem, und sie starrten sich unverwandt an.
Ich muss gegen den Wind gelaufen sein, dachte sie, oder wie sagt man da? Während sie langsam nach ihrem Fotoapparat griff, nahm sie sich vor, die korrekte Wendung nachzuschlagen. Ihr gelang eine Frontalaufnahme, doch dann machte sie den Fehler, entzückt aufzulachen. Das reichte, um den Hirsch sofort in die Flucht zu schlagen.
»Ich weiß genau, wie du dich fühlst«, murmelte sie und beobachtete, wie er vor dem menschlichen Kontakt floh. »Die Welt ist voller Furcht erregender Dinge.«
Sie steckte den kleinen Fotoapparat wieder in ihre Tasche, als ihr auffiel, dass sie weder Hundegebell noch Straßenlärm hörte. Nur den Wind in den Baumkronen wie ein leises Meeresrauschen und das Plätschern des Bachs.
»Vielleicht sollte ich in einem Wald wohnen. Mir ein kleines, abgelegenes Blockhaus suchen und Gemüse anbauen. Ich könnte Vegetarierin werden«, überlegte sie,
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