Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
Routen auszuwählen und diese an ihren freien Tagen – oder zumindest an jedem zweiten freien Tag – zu erkunden. Irgendwann würde sie auch in den Naturschutzpark fahren, bevor er im Sommer von den Touristenmassen überschwemmt würde. Die regelmäßige körperliche Bewegung würde ihr Appetit machen, und sie hätte bald wieder ihre alte Figur zurück.
Um auch etwas für ihre Seele zu tun, wollte sie lernen, wie man Wildblumen bestimmt, die im Sommer laut Wanderführer Wälder und Wege säumen. Das wäre ein Anreiz, länger hierzubleiben – vielleicht bis die Blütezeit begann.
Als sich der Weg gabelte, ließ sie die Schultern kreisen, um den Rucksack wieder in eine bequeme Position zu bringen, und nahm die Abzweigung, die zum Little Angel Canyon führte. Die Steigung war gering, aber stetig, während sie bei leichtem Nebel zwischen Koniferen hindurchschritt, in deren Wipfeln sie Vogelnester entdeckte. Riesige Felsbrocken lagen inmitten von Pfützen aus geschmolzenem Schnee, und dort, wo in wenigen Wochen jede Menge Wildblumen hervorsprie ßen würden, war es schlammig.
Reece kam sich beinahe vor wie auf einem anderen Planeten – inmitten all des blassen Grüns und Brauns.
Der Weg wurde steiler, ging erst sanft die Moräne hoch und dann durch eine Gruppe freistehender Fichten, bis er plötzlich in eine tiefe Schlucht hinabführte. Die Berge wurden spitzer, ihre schneebedeckten Gipfel funkelten in der Sonne. Als es noch steiler bergauf ging, achtete sie genau darauf, wo sie hintrat, und machte einen kleinen Schritt nach dem anderen.
Bloß keine Eile.
Während sie weiterwanderte, nahm sie die Bergwiesen in sich auf, die zerklüfteten Bergrücken und Schluchten, das kristallklare Wasser, das aus den Felsen sprudelte und in ebenso kristallklare Flüsse mündete.
Als sie die erste Meile hinter sich gebracht hatte, machte sie kurz Rast, um etwas zu trinken und die Umgebung auf sich einwirken zu lassen.
Im Südosten konnte sie den Angel Lake immer noch funkeln sehen. Der Nebel hatte sich gelichtet, weil ihn die Sonne, die am wolkenlosen Himmel stand, völlig zum Verdampfen gebracht hatte. Jetzt herrschte gerade reger Frühstücksbetrieb, dachte sie. Das Diner war von klapperndem Geschirr und buntem Stimmengewirr erfüllt, und in der Küche duftete es nach Speck und Kaffee, während hier im kühlen Nadelwald eine unbeschreibliche Stille herrschte.
Bis auf den leichten Wind, der in den Bäumen rauschte und im Schilf flüsterte, wo Enten ihren eigenen Geschäften nachgingen, war keinerlei Geräusch zu hören. Nur das anhaltende Klopfen eines Spechts in der Ferne, der gerade ebenfalls sein Frühstück einnahm.
Sie lief weiter; inzwischen war der Weg so steil, dass sie ihre Schenkelmuskeln spürte. Vor ihrer Verwundung, dachte Reece verärgert, hätte sie die Strecke joggen können.
Nicht, dass sie je wandern gegangen wäre, aber wo war schon der Unterschied zwischen dem Cross-Trainer im Fitnesscenter und einer acht Kilometer langen Bergwanderung?
»Da liegen Welten dazwischen«, murmelte sie. »Trotzdem, ich schaffe das.«
Der Weg verlief quer durch die noch schlafenden Bergwiesen, die Steilhänge rauf und runter. Auf dem sonnigen Hang, auf dem sie eine Pause einlegte, um wieder zu Atem zu kommen, konnte sie einen kleinen sumpfigen Teich erkennen, wo aus dem Schilf ein Reiher aufflog, der einen Fisch im Schnabel hatte.
Sie bedauerte, dass sie ihren Fotoapparat nicht griffbereit hatte, und lief weiter, bis sie das erste Plätschern des Flusses hörte. Als sich der schlammige Weg erneut gabelte, blickte sie sehnsüchtig auf das kleine Schild des Big Angel Trails. Dieser Wanderweg wand sich den ganzen Canyon hinauf und erforderte nicht nur Ausdauer, sondern auch Kletterkenntnisse.
Sie besaß weder das eine noch das andere und musste zugeben, dass sie jetzt schon Muskelkater in den Beinen hatte und ihr die Füße wehtaten. Sie war gezwungen, erneut zu rasten und etwas zu trinken, und überlegte schon, ob sie sich bei ihrer ersten Wanderung einfach mit dem Blick auf das Sumpfland und die Wiesen zufriedengeben sollte. Sie könnte sich hier irgendwo auf einen Felsen setzen, etwas Sonne tanken und mit etwas Glück vielleicht sogar Wild beobachten. Doch das Plätschern des Flusses klang einfach zu verlockend. Sie war aufgebrochen, um den Little Angel Trail zu erwandern, und genau das würde sie jetzt auch tun.
Ihre Schultern schmerzten. Gut, sie hatte es mit ihrem Gepäck definitiv übertrieben. Aber die Hälfte
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