Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
egal, ob sie lebte, und selbst wenn nicht, hatten sie keine Ahnung, wo sie jetzt wohnte.
Sie lebte – aus purem Zufall, aus purem Glück, dachte sie, während sie mit den Fingerspitzen über die Narbe fuhr, die die Kugel hinterlassen hatte.
Sie lebte, und ein neuer Tag brach gerade an. Und da … ein Elch, der an den See kam, um zu trinken.
»Das sieht man wirklich nicht alle Tage«, murmelte sie. »Nicht in Boston – nicht, wenn man jede Minute nur an seine Karriere, sein berufliches Fortkommen denkt. Dann sieht man nicht, wie die Sonne im Osten aufgeht und wie ein Elch mit knubbeligen Knien aus dem Wald tritt, um zu trinken.«
Sie bemerkte, dass Nebel vom Boden aufstieg, hauchdünn wie Gaze, während der See so ruhig dalag wie ein Spiegel. In diesem Moment ging in Brodys Blockhaus das Licht an. Vielleicht kann er auch nicht schlafen. Vielleicht steht er früh auf, um zu schreiben, damit er am Nachmittag in seiner Hängematte liegen und lesen kann.
Das Licht zu sehen und zu wissen, dass noch jemand außer ihr wach war, war irgendwie tröstlich.
Sie hatte wieder diesen Traum gehabt – größtenteils zumindest -, aber sie hatte keinen Nervenzusammenbruch bekommen. Und das war immerhin ein Fortschritt, oder etwa nicht? Und jemand auf der anderen Seeseite hatte gerade das Licht angemacht. Vielleicht sah er jetzt auch aus dem Fenster, genau wie sie, und entdeckte, dass Licht in ihrem Fenster brannte. Auf diese verquere Weise sahen sie sich gemeinsam den Sonnenaufgang an.
Sie blieb stehen, beobachtete, wie das Licht im Osten immer stärker wurde, den Himmel rosagolden aufleuchten ließ und sich dann auf der spiegelglatten Wasseroberfläche ausbreitete, bis der See glomm wie ein ruhiges Feuer.
Nachdem sie ihren Rucksack wie vom Wanderführer empfohlen gepackt hatte, schien er fünfzig Kilo zu wiegen. Die Route betrug gerade mal acht Kilometer, aber sie ging lieber auf Nummer Sicher und richtete sich nach den Empfehlungen für Wanderungen über zehn Kilometer.
Vielleicht hatte sie ja Lust, weiter zu gehen oder einen Umweg zu machen … Wie dem auch sei, der Rucksack war gepackt, und sie hatte nicht vor, ihn noch mal auszupacken. Sie erinnerte sich daran, dass sie jederzeit anhalten konnte, um den Rucksack abzusetzen und sich auszuruhen. Es war ein schöner klarer Tag – und sie würde ihn voll und ganz auskosten.
Sie hatte erst wenige Meter zurückgelegt, als sie gegrüßt wurde.
»Na, unterwegs zu einer kleinen Erkundungstour?«, sagte Mac. Er trug eines seiner Lieblingsflanellhemden, das er in die Jeans gestopft hatte, und ein tief ins Gesicht gezogenes Baseballkäppi.
»Ich dachte, ich wander ein bisschen auf dem Little Angel Trail.«
Er zog die Brauen zusammen. »Ganz allein?«
»Es ist eine leichte Route – zumindest steht das so in meinem Wanderführer. Das Wetter ist schön, und ich möchte gern den Fluss sehen. Ich hab eine Karte dabei«, fuhr sie fort, »einen Kompass, genügend Wasser und alles, was ich laut Wanderführer brauche.« Sie lächelte. »Und das ist mehr, als ich je benötigen werde, wirklich.«
»Der Weg ist noch schlammig. Und ich wette, im Wanderführer steht auch, dass man möglichst zu zweit gehen sollte – oder noch besser in der Gruppe.«
Womit er natürlich Recht hatte, aber sie mochte nun mal keine Gruppen. Allein fühlte sie sich wohler. »Ich geh nicht weit. Außerdem bin ich schon ein bisschen in den Smokies gewandert und in den Black Hills. Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Mr. Drubber.«
»Ich hab mir heute ebenfalls ein paar Stunden freigenommen – Leo steht hinter der Ladentheke, und die Lebensmittelabteilung ist auch besetzt. Ich könnte eine Stunde mit Ihnen mitwandern.«
»Das ist nicht nötig, außerdem haben Sie bestimmt schon etwas anderes vor. Wirklich, machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich geh nicht weit.«
»Wenn Sie bis heute Abend um sechs nicht wieder zurück sind, schick ich einen Suchtrupp los.«
»Um sechs werde ich nicht nur zurück sein, sondern schon längst ein heißes Fußbad genommen haben. Versprochen.«
Sie zog ihren Rucksack zurecht, umrundete den See und nahm den Wanderweg durch den Wald, bis der Canyon vor ihr aufragte.
Sie lief langsam, aber stetig und genoss die tanzenden Lichtpunkte, die durch das Blätterdach der Bäume fielen. Während sie die frische Luft auf ihrem Gesicht spürte, den Duft nach Tannen und erwachender Erde wahrnahm, verblasste ihr Albtraum zusehends.
Sie schwor sich, öfter wandern zu gehen. Andere
Weitere Kostenlose Bücher