Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
was da geschah. Normalerweise gab es im Maneo’s keine Schreie und Schüsse. Nicht in diesem netten Familienrestaurant. Sheryl Crow.«
»Wie bitte?«
»Im Küchenradio lief Sheryl Crow. Ich hab nach meinem Handy gegriffen – zumindest wollte ich das. Dann schwang die Tür auf. Ich wollte mich umdrehen – vielleicht bin ich auch losgerannt. Wenn ich daran denke oder davon träume, seh ich immer wieder diese Pistole und das dunkelgraue Kapuzensweatshirt vor mir. Mehr nicht. Ich sehe sie, und dann stürze ich, empfinde einen schier unerträglichen Schmerz. Zwei Kugeln, haben sie gesagt. Eine in die Brust, die andere Kugel hat meinen Kopf nur gestreift. Aber ich bin nicht gestorben.«
Als sie schwieg, sah er kurz zu ihr herüber. »Erzählen Sie weiter.«
»Ich bin in die Abstellkammer geflogen. Mitten in die Putzmittel. Ich wollte gerade die Putzmittel wegräumen und bin da reingefallen. Das haben mir später alles die Cops erzählt. Ich wusste nicht mehr, wo ich war. Ich kam noch mal kurz zu mir. Alles fühlte sich taub an, mir war kalt, und ich war völlig verwirrt.«
Sie fuhr sich erneut mit der Hand über den Ausschnitt. »Ich bekam keine Luft mehr. Diese Last auf meiner Brust. Dieser schreckliche Schmerz. Ich konnte nicht mehr atmen, bekam einfach keine Luft mehr. Die Tür stand immer noch auf, nicht ganz, nur einen Spalt. Ich hörte Stimmen und wollte instinktiv um Hilfe rufen. Aber ich konnte nicht. Zum Glück nicht. Ich hörte Weinen und Schreien und Lachen.«
Sie zwang sich, die Hand wieder in den Schoß sinken zu lassen. »Danach wollte ich nicht mehr um Hilfe rufen. Ich wollte nur noch ganz leise sein, so leise wie möglich, damit niemand nachsehen kam. Damit mich niemand umbrachte. Irgendetwas krachte. Meine Freundin, die Beiköchin, ging auf der anderen Seite der Tür zu Boden. Ginny. Ginny Shanks. Sie war vierundzwanzig Jahre alt und hatte sich im Monat zuvor gerade verlobt. Am Valentinstag. Sie wollten im Oktober heiraten. Ich sollte ihre Trauzeugin sein.«
Als Brody schwieg, schloss Reece die Augen und sprach mechanisch weiter. »Ginny ging zu Boden, ich konnte ihr Gesicht durch den Türspalt sehen. Es war blau, geschwollen und blutig – sie müssen sie geschlagen haben. Sie weinte und bettelte. Unsere Blicke trafen sich, nur eine Sekunde lang, so habe ich es zumindest in Erinnerung. Dann hörte ich einen Schuss, und sie zuckte. Nur einmal, wie eine Marionette. Ihr Blick veränderte sich. Es dauerte nicht mal den Bruchteil einer Sekunde, und ihr Leben war ausgelöscht. Einer von ihnen muss gegen die Tür getreten haben, denn sie ging zu. Alles wurde schwarz. Ginny lag direkt auf der anderen Seite der Tür, und es gab nichts, was ich für sie tun konnte. Für niemanden von ihnen. Ich konnte da nicht raus. Ich lag wie lebendig begraben in meinem Sarg, und wir waren alle tot. Das habe ich gedacht. Die Polizei hat mich gefunden. Und ich habe noch gelebt.«
»Wie lange waren Sie im Krankenhaus?«
»Sechs Wochen, aber an die ersten beiden kann ich mich nicht erinnern. An die danach auch nur bruchstückhaft. Aber ich konnte nicht sehr gut damit umgehen.«
»Womit?«
»Mit dem Vorfall, damit, dass ich überlebt habe, damit, ein Opfer zu sein.«
»Wie soll man bitte mit so etwas gut umgehen, wenn man fast erschossen, für tot gehalten und liegen gelassen wird und noch mitansehen muss, wie eine Freundin umgebracht wird?«
»Indem man auf die Therapie anspricht und akzeptiert, dass man nichts hätte tun können, um das zu verhindern. Und indem man letzten Endes dankbar dafür ist, verschont worden zu sein. Indem man zu Gott findet oder das Leben voll und ganz auskostet«, sagte sie ungeduldig. »Keine Ahnung. Aber ich konnte einfach nicht damit umgehen, bin nicht gut damit umgegangen. Ständig diese Flashbacks und Albträume. Das Schlafwandeln, die hysterischen Anfälle, aber auch völlig lethargische Phasen. Ich bildete mir ein, sie würden kommen, um mich zu holen, sah dieses graue Sweatshirt an Fremden auf der Straße. Ich hatte einen Nervenzusammenbruch, deshalb die psychiatrische Anstalt.«
»Man hat Sie in die Psychiatrie gesteckt?«
»Ich hab mich selbst einweisen lassen, als mir klar wurde, dass sich mein Zustand nicht verbessert. Ich konnte nicht mehr arbeiten, ich konnte nicht mehr essen. Ich konnte gar nichts mehr.« Sie kratzte sich an der Schläfe. »Aber ich musste da raus, weil ich merkte, wie einfach es wäre, in dieser geschützten Umgebung zu bleiben. Ich musste aufhören, diese
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