Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
rausfahren?«
»Für mich ist der Tag ohnehin gelaufen.«
»Also gut.« Sie stand auf und griff nach ihrem Rucksack.
Er blieb neben der Tür stehen und sah zu, wie sie seinen Inhalt überprüfte. Den Reißverschluss zumachte. Ihn wieder aufmachte und nochmals nachsah. Wenn er sich nicht irrte, musste sie schwer mit sich kämpfen, ihn kein drittes Mal aufzumachen.
Als er die Tür öffnete, verließ sie die Wohnung und schloss ab. Dann blieb sie noch eine Weile davor stehen und starrte die Tür an.
»Na los, machen Sie schon. Kontrollieren Sie das Schloss. Sonst machen Sie sich nachher unnötig Sorgen.«
»Danke.« Sie kontrollierte es und warf ihm einen flüchtigen, entschuldigenden Blick zu. Nur um es erneut zu kontrollieren, bevor sie sich zwang, die Treppe hinunterzugehen.
»Das ist schon ein großer Fortschritt«, verkündete sie. »Früher hab ich zwanzig Minuten gebraucht, um einen Raum zu verlassen. Und das nur unter Valium.«
»Besser leben durch Chemie!«
»Wohl kaum. Diese Pillen machen mich … wahnsinnig. Noch wahnsinniger, als ich Ihnen ohnehin schon vorkomme.« Bevor sie in seinen Wagen stieg, warf sie einen prüfenden Blick auf die Rückbank. »Eine Zeit lang hat es mir nichts ausgemacht, wahnsinnig zu sein. Aber jetzt möchte ich lieber alles in Ruhe durchdenken, anstatt eine Pille zu nehmen, die bewirkt, dass mir alles egal wird.«
Sie schnallte sich an, kontrollierte den Sicherheitsgurt. »Wollen Sie denn gar nicht wissen, warum ich in der Psychiatrie war?«
»Wollen Sie mir jetzt etwa Ihre ganze Lebensgeschichte erzählen?«
»Nein. Aber nachdem ich Sie schon so weit mit hineingezogen habe, sollten Sie wenigstens einen Teil davon kennen.«
Er verließ den Bordstein, lenkte den Wagen um den See und stadtauswärts. »Einen Teil kenne ich schon. Wie gesagt, der Sheriff hat Nachforschungen über Sie angestellt.«
»Er …« Sie verstummte und zwang sich, erst in Ruhe darüber nachzudenken. »Das ist bloß logisch, nehme ich an. Niemand hier kennt mich, und plötzlich schreie ich ›Mord!‹«
»Wurde der Kerl je gefasst, der auf Sie geschossen hat?«
»Nein.« Sie hob reflexartig die Hand und fuhr sich geistesabwesend über den Ausschnitt. »Einer wurde angeblich identifiziert, aber er ist an einer Überdosis gestorben, bevor sie ihn verhaften und befragen konnten. Sie waren zu mehreren. Wie viele, weiß ich nicht genau, aber mehr als einer. Da bin ich mir sicher.«
»Verstehe.«
»Zwölf Leute. Leute, mit denen ich gearbeitet oder die ich bekocht habe, die ich geliebt habe. Alle tot. Ich hätte auch tot sein sollen. Das gibt mir immer wieder neu zu denken. Warum habe ich überlebt und sie nicht? Was für einen Sinn soll das alles haben?«
»Glück gehabt.«
»Vielleicht. Vielleicht ist das die grausame Wahrheit.« Lag auch ein gewisser Trost darin?, fragte sie sich. »Sie haben vielleicht gerade mal ein paar tausend Dollar erbeutet. Die meisten Leute zahlen mit Kreditkarte, wenn sie essen gehen. Ein paar tausend Dollar oder was sich sonst noch in Geldbeuteln und Handtaschen befand. Ein bisschen Schmuck – nichts Besonderes. Wein und Bier. Wir hatten einen guten Weinkeller. Aber deswegen ist niemand gestorben. Niemand hätte sie aufgehalten, niemand hätte eine Schießerei riskiert. Nicht wegen des Bargelds, wegen ein paar Flaschen Wein und ein paar Uhren.«
»Warum sind sie dann gestorben?«
Sie starrte auf die Berge, die mächtig vor dem milchigen Blau des Himmels aufragten. »Weil die Leute, die reinkamen, es so wollten. Aus purer Lust am Töten. Dasselbe hat auch einer von den Cops gesagt. Ich hab da gearbeitet, seit ich sechzehn war. Ich bin im Maneo’s aufgewachsen.«
»Sie haben also schon mit sechzehn gearbeitet. Sie müssen ein ziemlich wilder Feger gewesen sein.«
»Ich war nicht einfach. Aber ich wollte arbeiten. Ich wollte in einem Restaurant arbeiten. Ich hab im Sommer und während der Ferien Tische eingedeckt und am Wochenende Lebensmittel vorbereitet. Ich habe es geliebt. Ich hab sie geliebt.«
Sie sah wieder alles ganz genau vor sich. Das Gewusel in der Küche, das Klirren jenseits der Schwingtüren, die Stimmen, die Gerüche.
»Es war mein letzter Abend. Sie haben eine Abschiedsparty für mich vorbereitet. Es sollte eine Überraschung werden, also trödelte ich in der Küche herum, damit ihnen genug Zeit blieb, alles entsprechend zu dekorieren. Dann plötzlich Schreie und Schüsse, zerberstendes Glas. Ich glaube, es dauerte eine ganze Minute, bis ich begriff,
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