Verschollen
das aus, was keiner der anderen ihrer Anführerin zu sagen wagte: »Das ist nicht dein Ernst, oder?«
Jessica lächelte. »Doch, doch.« Sie blickte in die Runde und ihr Gesichtsausdruck wurde grimmig. »Ihr könnt es euch gern auf der Karte ansehen, wir sparen mehrere Stunden Umweg, wenn wir hier hindurchgehen. Auf der anderen Seite kommt kurz danach ein Tunnel, der fast direkt zu Mardras Gefängnis führt. Würden wir diese Halle umgehen, müssten wir erst wieder ein ganzes Stück nach oben und durch noch engere Gänge als zuletzt.«
Sie wartete gar keine Erwiderung ab, sondern sandte ihre Leuchtkugel in die Mitte der Turnhallen-großen Höhle. Ohne ein weiteres Wort schritt sie auf den Sims an der rechten Wand zu und marschierte vorsichtig los.
Der Sims war stellenweise breit genug, dass sie die Füße nebeneinander setzen konnte, es gab aber immer wieder Engstellen, wo Jessica sich mit dem Bauch an die Felswand pressen musste und sich auf Zehenspitzen zentimeterweise vorwärts schob. Die anderen verfolgten ihren Weg gebannt und keiner machte Anstalten ihr zu folgen. Es waren angespannte Minuten, doch schließlich erreichte Jessica unbeschadet die andere Seite, ohne auch nur einmal in Absturzgefahr geraten zu sein. Sie winkte den anderen, ihr zu folgen, und Rani ging als Erste. Mit Abstand folgten Martin, Vinjala, Tiana und Katmar. Hier und da wurde mal mit den Armen gerudert, einmal kreischte Vinjala auf und krallte sich am Fels fest, als ihr Fuß abrutschte, doch sie kamen alle gut voran.
»Jetzt du, Paladin.« Ilgar sprach das Wort mit Verachtung aus.
Tristan warf ihm einen finsteren Blick zu und wagte sich auf den Sims, Ilgar folgte dicht auf. Es ging einfacher, als Tristan erwartet hatte. Er vermied es, in den gähnenden Abgrund zu blicken, und konzentrierte sich statt dessen auf den Sims vor sich. Die erste Engstelle bewältigte er noch übervorsichtig, krallte sich am Fels fest und schob sich nur millimeterweise voran, sodass Ilgar zu ihm aufschloss und verächtlich schnaubte, weil er warten musste.
Danach wurde Tristan etwas wagemutiger und kam schon kurz hinter Katmar an die letzte Engstelle. Er überwand sie mühelos und wollte Ilgar gerade ein hämisches Grinsen schenken, als es passierte.
Es war kein richtiges Beben wie in der Höhle der tausend Lichter, nur ein kurzer Stoß, aber es reichte aus. Die gleichzeitige Belastung aus Erdstoß und Ilgars Gewicht ließ den Simsrest unter Ilgars Füßen wegbrechen. Er schrie überrascht auf, krallte sich mit den Fingerkuppen im rauen Fels fest und suchte mit baumelnden Füßen nach Halt, aber er fand keinen.
Tristan war selbst überrascht von seiner schnellen Reaktion. Gewagt sprang er zu Ilgar zurück und packte ihn am Arm, als der gerade den Halt verlor. Das plötzliche Gewicht riss Tristan nach vorn, aber dank seiner Paladinenkräfte gelang es ihm, sich mit der linken Hand an einem Felsvorsprung abzustützen und Ilgar, der sich mit beiden Händen an Tristans Arm festklammerte, zu halten. Doch der lange Marsch zeigte Wirkung. Tristan versuchte Ilgar hochzuziehen, aber es gelang ihm nicht. Nach wenigen Zentimetern erlahmten seine Kräfte und sein linker Arm begann ebenfalls bereits unter der Belastung zu zittern.
Auch Ilgars Griff ließ nach, seine Hände rutschten an Tristans Arm ab und krallten sich in die Hand des Jungen. Tristan spürte, wie ihn die Kräfte verließen.
»Lass ihn los!«, rief Jessica plötzlich herüber.
Tristan hatte vieles erwartet, aber nicht das. Er starrte verdattert in ihre Richtung, Ilgars Augen weiteten sich vor Furcht.
»Nun mach schon«, forderte sie.
»Aber …«, wollte Tristan aufbegehren, erst da wurde ihm bewusst, dass Ilgars Gewicht nicht mehr an ihm zog. Erschrocken blickte er hinab. Noch immer hing Ilgar an seiner Hand, nur scheinbar schwerelos.
»Tristan, bitte, es ist alles in Ordnung«, rief Jessica. »Ich halte ihn, lass einfach los.«
Auch wenn er Jessica vertraute, kostete es Tristan im Angesicht des Abgrundes Überwindung, den Griff um Ilgars Hand zu lösen, der seinerseits nur widerwillig losließ. Kurz hing er haltlos in der Luft, wurde dann hochgehoben und schwebte zu den anderen.
Tristan erinnerte sich an den Zauber, mit dem Johann hinunter nach Nephara geschwebt war. Den musste Jessica gewirkt haben, folgerte er. Erschöpft, aber vor allem erleichtert blieb er eine Weile stehen, dann ging er vorsichtig auf dem Sims zu den anderen.
Jessica keuchte noch immer, als er dort ankam. Sie hatte die
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