Verschollen am Mount McKinley - Alaska Wilderness ; 1
Luft von draußen durch verborgene Öffnungen oder Spalten in der Felswand mit. Die Wände waren mit einer dicken Eisschicht überzogen. Der flackernde Lichtschein ihrer Stirnlampe huschte über die vereisten Felswände hinweg, während sie sich vorsichtig über den ebenso glatten Boden nach vorn tastete.
Als sie an eine Weggabelung kam, blieb sie stehen und überlegte eine Weile. Der Gedanke, sie könnte sich in dieser Höhle verirren und nicht mehr zum Ausgang finden, jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Der eisige Lufthauch wanderte wie unheimliches Flüstern durch den Tunnel, die Stimmen der Unglücklichen, die sich in diesem Labyrinth verirrt hatten und niemals ans Tageslicht zurückgekehrt waren. Ihre Kehle zog sich zusammen.
Immer nach rechts, sprach sie sich Mut zu, dann kann nichts passieren. Ohne weiter darüber nachzudenken, lief sie in den rechten Gang, folgte dem Lichtkegel ihrer Stirnlampe, die ihr nervös vorauszueilen schien. Ihre Schritte hallten leise durch die Dunkelheit, selbst ihren Atem glaubte sie hören zu können. An vielen Stellen war der Boden so glatt, dass sie sich mit einer Hand an der vereisten Felswand festhalten musste, ohne auch dort rechten Halt zu finden. Kehr um, rief ihr eine innere Stimme zu, du bist weit genug!
Doch sie ging weiter und erreichte wenig später einen anderen Höhlenraum, beinahe kreisrund und kuppelförmig und an manchen Stellen so vereist, dass man kaum noch die Felswand sah. Durch einen Spalt in der Decke fiel düsteres Licht herein, und der Wind pfiff singend in die Höhle und trieb ihr einige Schneeflocken ins Gesicht. Von der Decke hingen dicke Eiszapfen.
Julie ließ den Lichtkegel ihrer Stirnlampe durch den Höhlenraum wandern und blieb an einem dunklen Etwas hängen, das zusammengekauert auf dem Boden zu liegen schien. Zuerst glaubte sie an ein Tier, vielleicht doch einen Bären, aber in dem Lichtschein bewegte sich nichts, kein Aufschrecken und kein warnendes Knurren war zu hören. Vorsichtig ging sie darauf zu, langsam einen Fuß vor den anderen setzend und stets bereit, sofort umzudrehen und zu fliehen, falls sich doch etwas bewegte. Sie war unbewaffnet, hatte nicht einmal einen Knüppel, um sich gegen einen plötzlichen Überfall wehren zu können.
Was sie dann erkannte, war mindestens ebenso erschreckend wie das weit aufgerissene Maul eines Grizzlys. Ein menschliches Skelett lag auf dem vereisten Boden, die Arme und Beine ausgestreckt, als hätte man die Leiche achtlos in die Höhle geworfen. Teilweise waren die Knochen noch mit der Winterkleidung eines Bergsteigers bedeckt. Neben ihm lagen sein Helm und seine Ausrüstung, Eispickel, Steigeisen, Alpingurte, wie Grabbeigaben eines bedeutenden Mannes, den man in einem natürlichen Mausoleum zur ewigen Ruhe gebettet hatte.
Julie schrie nicht und rannte nicht davon, war durch die Erzählungen ihrer Eltern so oft mit dem Tod beschäftigt gewesen, dass sie keine Scheu vor ihm zeigte. Eher neugierig beugte sie sich zu dem Skelett hinab. In der Schläfe des Schädels klaffte ein Loch, das Einschussloch einer Pistole, wie sie vermutete, und der Beweis dafür, dass der Mann sich entweder selbst gerichtet hatte oder erschossen worden war. Vielleicht steckte die Kugel sogar noch im Schädel.
Sie dachte nicht daran, den Schädel in die Hand zu nehmen, durchsuchte stattdessen die Taschen des Overalls, der in Fetzen von seinen Knochen hing und im Sommer wahrscheinlich von Tieren angefressen worden war. In einer versteckten Brusttasche, deren Reißverschluss sich nur mit Gewalt öffnen ließ, fand sie ein kleines schwarzes Buch, dessen erste Seiten eng beschrieben waren. Sie richtete sich auf und ließ ihre Stirnlampe auf die erste Seite leuchten.
»Billy Jacobsen«, stand dort. »Tagebuch der Mount-McKinley-Expedition im Mai 1988.« Sie blätterte zu den letzten Eintragungen vor und las mit wachsendem Entsetzen: »… sind auf dem Rückweg. Nick ist wie verwandelt, kann anscheinend nicht vertragen, dass ich ebenfalls auf dem Gipfel war …«
Sie ließ die Hand mit dem Tagebuch sinken und blickte entgeistert auf das Skelett des Bergsteigers hinab. Deshalb hatten sie ihn also nicht gefunden. Er hatte ebenfalls den Gipfel des Mount McKinley erreicht, war mit Nick Harmon abgestiegen und erst hier in den Ausläufern des Berges von ihm erschossen worden. Aus Eifersucht und krankhaftem Geltungsbedürfnis. Sein Partner hatte wohl mit ihm in dieser Höhle gelagert und ihn, nachdem er ihn auf heimtückische
Weitere Kostenlose Bücher