Verschollen im Taunus
an in dunklen Grautönen. Sie hielt es für absurd, ihrem Liebsten könnte irgendwas zugestoßen sein. Aber genau so unlogisch war die Vermutung, Simon ginge es rundum fantastisch. Dem widersprachen etliche bekannte und unbekannte Faktoren, die hier alle aufzuführen wir uns besser schenken. Der Oberkommissar befand sich zum Bezahlen im Verkaufsraum der Königsteiner Tankstelle. Vom Beifahrersitz sah sie ihren Simon auf gleich zwei Plakaten an der durchgängig gläsernen Schiebetür. Das war einerseits gut, weil es ihr das Gefühl gab, die Polizei nehme die Angelegenheit sehr ernst. Zum anderen sagte es ihr mehr als deutlich, daß Herr Schweitzer tatsächlich vermißt wurde. Ohne es zu wollen, beschäftigte sich Maria mit der Frage, wie viel Prozent aller Vermißten in Wirklichkeit tot waren. Tot und vermißt. Nicht alle Toten wurden schließlich auch gefunden. „Vermißt du mich?“ hatte Simon sie gestern noch am Telefon gefragt. Ein guter Titel für einen Film noir wie diesen hier.
Sie nahm sich vor, heute abend aus therapeutischen Gründen das Weinfaß aufzusuchen. Den just in dem Moment, als Schmidt-Schmitt von der Kasse zurückkehrte, mit Tatütata vorbeibrausenden Feuerwehrwagen brachte sie nicht mit dem Fall Simon Schweitzer in Verbindung.
Auf die Minute genau zu der Zeit, als der Oberkommissar Herrn Schweitzers Twingo über die Friedensbrücke nach Sachsenhausen lenkte, befand sich der Detektiv in einer Phase seines Lebens, die in der Retrospektive mit nebulös zu beschreiben jedweder Realität spottete. Ein sich noch nicht gänzlich dem Tode ergebener, über und über blutender Körper kroch in Zeitlupentempo auf das alleinstehende Bauernhaus zu. Die Haut hing in Fetzen von den Knien. Die Ellenbogen und Handflächen sahen nicht anders aus. Es schien, als würde er nur noch von seiner Unterhose zusammengehalten. Vor einer halben Stunde schon hatte Herr Schweitzer in semikomatösem Zustand eine Veränderung des Untergrunds, auf dem er sich abmühte, wahrgenommen, kurz den Kopf gehoben und das Haus erblickt. Irgendein Modul seines Hirns hatte sofort ‚Rettung‘ gefunkt. Das meiste Blut hatte er auf dem rauhen Asphalt der Hofeinfahrt verloren. Es war keine Kraft mehr vorhanden, beim Kriechen Arme und Beine wenigstens noch einen halben Zentimeter hochzuhieven, um der Schmirgelwirkung zu entgehen. Wäre von der Rennleitung die erste und einzige Treppenstufe als Ziel vorgegeben worden, man wäre nicht umhingekommen, Herrn Schweitzer zu disqualifizieren. Gute zehn Zentimeter fehlten noch, ehe er final schlappmachte. Vierzehn Stunden und ein paar Gequetschte sollte sein mechanischer, nur vom Unterbewußtsein gesteuerter Überlebenskampf noch dauern, von dem er nichts mitbekam.
Eine dreiviertel Stunde später wurde er von einer betagten Dame aus dem einsetzenden monsunartigen Regenguß, der fast jedem kambodschanischen Landstrich zur Ehre gereicht hätte, ins Gebäudeinnere gezogen. Trotz der zierlichen, gebrechlichen Gestalt hatte sie Hände breit wie Spaten. Hände, die es gewohnt waren, bäuerliche Schwerstarbeit zu verrichten. Erst vor gut einem Jahr war sie auf Geheiß ihres Enkels – ihr Sohn und die zwei Töchter waren schon vor langer Zeit gestorben – aus Meseritz in Westpommern hierher gezogen. Sie war die letzte ihrer Familie, die drüben die Stellung gehalten hatte. Alle anderen Verwandten waren längst nach Hessen und Bayern übergesiedelt. Oberreifenberg fand sie gar nicht mal so übel. In zwei Tagen, am Montag, würde Jan zurück sein aus Polen. Er schlachtete Unfallautos aus. Die noch zu gebrauchenden Teile verkaufte er in seiner alten Heimat. Davon lebten sie. Viel warf der Hof nicht ab. Ein paar Hühner und eine Kuh im Ruhestand, mehr hatte es nicht an Nutztieren.
Beim Metzger Pomp auf der Textorstraße in Dribbdebach erstand der Oberkommissar reichlich Steaks und Bratwürste. Was seine heißgeliebte Grillsaison anging, ließ er sich selten lumpen. Klar, es gab weitaus billigere Metzgereien, doch seine kulinarischen Ansprüche ließen ihm, sofern die Zeit fehlte, die Steaks einen Tag vorher höchstselbst zu marinieren, gar keine andere Wahl.
Maria hatte er vorher auf dem Lerchesberg abgesetzt, nun stand noch ein Besuch beim Getränkemarkt an, auf daß sein heutiger Besucher Roland Stipp, mit dem er zusammen im Zico-Team kickte, und der in der Region ein allseits bekannter Fußballjournalist war, keinen Durst möge erleiden. Der Rest der zwei Kästen Bier – der Kofferraum des ihm von
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