Verschollen
ekelten ihn an. Ihre Laute und Bewegungen. Die Gerüche ihrer Körper. Dennoch zog es ihn dorthin. Er verspürte eine merkwürdige Ruhe, wenn er sie beobachtete. Sie verstellten sich nie. Sie waren sie selbst und nichts anderes. Er senkte wieder den Blick und las weiter. Er hatte die Artikel über den Leichenfund aufgeschlagen, große, dicke Überschriften: »Ein Monster aus der Vergangenheit?« - »Massengrab im Wald. Wie viele werden sie noch finden?« Methodisch las er alle Zeitungen durch, schmunzelte zwischendurch über die verschiedenen Theorien, die aufgestellt wurden, die eine weiter hergeholt als die andere. Oder vielleicht auch nicht weit genug.
Er warf einen Blick auf die verschiedenen Verfasser der Artikel. Nielsens Name war nicht darunter, was er auch nicht erwartet hatte. Nicht wenn es sich um diese Art von Sensationsjournalismus handelte. Anscheinend schrieb er nur als Freier und nur größere, ausführliche und gründlich recherchierte Artikel. Aber immer seltener, schien es. Einen Augenblick überlegte er, wie Nielsens finanzielle Situation wohl aussah. Konnte er von dem leben, was er schrieb? Oder hatte er noch andere Einkünfte? Das sollte er vielleicht einmal genauer untersuchen.
Er faltete die Zeitungen zusammen und legte sie beiseite. Mit halb geschlossenen Lidern ging er in Gedanken zurück zu dessen Artikel im April. Er kannte ihn so gut wie auswendig, aber er war nicht mehr an dem Text interessiert. Er wollte sich ein Bild seiner eigenen Reaktionen verschaffen, verstehen, was ihn hatte so handeln lassen, wie er es getan hatte. Was war in ihm vorgegangen, als er ihn zum ersten Mal gelesen hatte?
Ein Beben, erinnerte er sich. Nicht vor Erstaunen. Und nicht vor Angst. Vielmehr vor Erwartung. So als sei endlich etwas eingetreten, worauf er so lange gewartet hatte. Ein Signal, eine Botschaft, die sich nur an ihn richtete.
Rein rational wusste er, dass dem nicht so war, dass es so etwas nicht gab. Wie sollte es möglich sein? Alles war nur genau das, wonach es aussah: Es war ein Artikel über eine Sache, die keinerlei Bedeutung mehr hatte. Über die man sich nicht im Geringsten den Kopf zerbrechen musste.
Dennoch hatte er dieses Gefühl, dass sie auf diesem Weg nach ihm suchte. Plötzlich schüttelte es ihn.
Dieses Beben. Er konnte es noch immer in sich spüren. Als würde ihn jemand heftig rütteln. Immer stärker, damit er aufwachte.
Er kehrte in die Wohnung zurück. Schloss die Tür hinter sich ab und ging zu seinem Schreibtisch. Es war eher eine Art Werkbank, die an der einen Zimmerwand stand. Er nahm den Stapel mit Fotos, der vor dem Computer lag, und breitete ihn vor sich aus. Sie deckten eine Zeitspanne von beinahe zwanzig Jahren ab. Das älteste Bild stammte aus den frühen Achtzigern: Eine lang aufgeschossene Gestalt zwischen zwei stämmigen Polizisten, die nach einer Autojagd gefasst worden war. Die jüngsten hatte er selbst aufgenommen, im Sommer und Herbst, aus großer Entfernung mit einem Teleobjektiv. Nachdenklich musterte er die Fotos. Trotz der altersbedingten Veränderungen - dünnere Haare, die Andeutung eines Doppelkinns, die stärker hervortretenden Falten an Nasenwurzel und Augen - waren die charakteristischen Züge leicht erkennbar, vom ersten bis zum letzten Bild. Die große, ein wenig schiefe Nase, der verbissene Zug um Mund und Kiefer und der forschende, immer etwas misstrauische Blick.
John Lean Nielsen.
Er setzte sich hin und schob die Fotos beiseite. Sie sagten einiges aus, aber noch lange nicht alles. Man musste einen Menschen eine ganze Zeit lang vor sich sehen, um ein einigermaßen gründliches Bild von ihm zu bekommen. Man musste ihn genauestens beobachten, Details registrieren. Die Körpersprache, die Eigenheiten der Mimik, den Laut der Stimme: Schwingungen, Zweifel, Unsicherheit. Kleinigkeiten, an die man oft nicht dachte. Man musste nach Rissen Ausschau halten, die sich nur für Sekunden öffneten und Dinge offenbarten, die der andere niemals preisgeben wollte.
Noch wusste er zu wenig, stellte er fest.
Er erinnerte sich an ihr kurzes Gespräch. An die Irritation in der Stimme, die Schroffheit, die deutlich machte, wie wenig Lust er hatte, sich weiter zu unterhalten.
Er holte die Kopfhörer hervor, setzte sie auf und machte das Tonbandgerät an, spulte zurück und lauschte gespannt. Er konnte ihn förmlich vor sich sehen, ungeduldig mit den Fingern trommelnd, Grimassen schneidend. Dann spulte er weiter nach vorne zu den jüngsten Aufnahmen, die
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