Verschollen
Neuigkeitswert hat ziemlich schnell wieder abgenommen. Und das ist ein großes Glück.«
John Nielsen nickte. Er hatte eine ganze Woche noch gewartet, ehe er den Flug genommen hatte. Und vorrangig aus diesem Grund. Er wollte in der Lage sein, sich im Ort zu bewegen, ohne an jeder Ecke einem seiner sensationshungrigen Kollegen zu begegnen, die ihn unentwegt nach Hintergrundinformationen ausfragen würden.
»Haben Sie etwas Neues herausgefunden?«, fragte er, während der Wagen sich in die Schlange einreihte, die den Flugplatz verließ.
»Nicht viel mehr, als Sie bisher in den Zeitungen lesen konnten. Dass es lange her ist. Alle drei Verbrechen. Gleiche Tatzeit. Die Pollenanalyse und ein paar andere Untersuchungen haben ergeben, dass man wohl sagen kann, dass sie alle zu ein und demselben Zeitpunkt geschehen sind. Zumindest, dass sie zeitgleich vergraben wurden.«
»Und Sie wissen noch nichts Neues über die beiden anderen Leichen?«
Olle Ivarsson räusperte sich. Seine Stimme bekam einen offiziellen, leicht dozierenden Tonfall.
»Eine männliche Person, etwa zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt sowie eine Frau, anscheinend etwas älter. Es ist wahrscheinlich, dass sie Kinder bekommen hat. Beim Mann fanden sich eine Reihe von verheilten Knochenbrüchen. Er hat offenbar einiges mitgemacht in seinem Leben. Beide Leichen waren nicht besonders tief vergraben. Lediglich eine Lage Steine und Torf bedeckten sie. Keine Reste von Kleidungsstücken. Sie müssen nackt gewesen sein, als sie vergraben wurden. Die Todesursachen? Beide waren geköpft, was jedoch - wie bereits vermutet - erst nach Eintritt des Todes erfolgte. An beiden Skeletten fanden sich im Brustbereich Spuren eines scharfen Gegenstandes - von einem Messer nehmen wir an. Sie wurden vermutlich mit einer Anzahl von Messerstichen in die Brust getötet. Beim Mann entdeckten wir darüber hinaus noch Spuren im Beckenbereich. Ja, hier liegt der Verdacht nahe, dass er womöglich kastriert wurde, oder etwas Ähnliches...«
Er schwieg einen Moment lang.
»Was Anna-Greta Sjödin betrifft, war ihr Skelett ja vollkommen zertrümmert, aber auch dort ließen sich dieselben Spuren an Brustkorb und Brustbein finden. Ferner noch eine Verletzung am oberen Teil des Schlüsselbeins. Es scheint, dass sie ebenfalls mehrere Messerstiche in den Brustbereich, aber auch einen im Halsbereich erhalten hat. Vielleicht ist ihr ganz einfach die Kehle durchgeschnitten worden.«
Er verstummte, konzentrierte sich aufs Fahren.
Auch John Nielsen saß schweigend neben ihm, schüttelte dann den Kopf. »Eine Schlachtung«, stieß er schließlich mit heiserer Stimme hervor.
Olle Ivarsson nickte.
»Ja, das kann man wohl sagen. Und das Schlimmste ist, dass man nichts mehr tun kann. Diese Taten sind alle schon längst verjährt.«
Er rieb sich die Nasenwurzel, schien zu überlegen.
»Eine merkwürdige Geschichte«, sagte er dann mit einem Seufzer. »Und das ist leider noch nicht alles. Kennet Eriksson - einer der Männer, die da oben beim Raggbergskläppen dabei waren - hat sich in Luft aufgelöst.«
John Nielsen starrte ihn an. »Was meinen Sie damit?«
»Genau das, was ich sage. Er ist weg. Hat sich letzten Samstag aus dem Staub gemacht, scheint es. Einen Tag, nachdem es passiert ist.«
Er schwieg einen Augenblick lang und blinzelte auf die Fahrbahn.
»Er war auch einer von denen, die wir verhört haben, als Anna-Grete Sjödin verschwand.«
Olle Ivarsson fuhr stürmisch. Fast unablässig klebte er auf dem Mittelstreifen und überholte bei der kleinsten Möglichkeit sofort. Jedes Mal, wenn er gezwungen wurde, das Tempo zu drosseln und in der Schlange zu verharren, schimpfte er.
»Bauern! Und Rentner. Die sollten sich an ihre Traktoren halten. Oder an die Fahrbereitschaft für Behinderte.«
John Nielsen warf einen schnellen Blick auf das Tachometer.
»Haben Sie hier oben keine Geschwindigkeitsbeschränkungen?«
Ivarsson grinste. »Nein. Zumindest keine, die gelten. Das hat mit der Politik für dünn besiedelte Gebiete zu tun. Die Leute müssen von hier doch so schnell wie möglich abhauen können!«
John Nielsen schüttelte den Kopf und sah aus dem Fenster. Der Himmel war klar und blau, die fahle Sonne stand über den gewaltigen Bergrücken. Auf den Bäumen lag Raureif, und am Wegesrand sammelten sich struppige Haufen von verwelktem Gras. In regelmäßigen Abständen tauchte auf der Straßenseite die schwarzblaue Seenlandschaft auf. Eine trostlose Landschaft, trotz der Häuser, die
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