Verschollen
Dass er mich anruft, um mit mir zu plaudern, meine ich. Er scheint nicht wirklich so ein Typ zu sein, oder?«
Ivarsson schnaubte.
»Ich kann nicht sagen, dass ich auch nur den Funken einer Ahnung davon habe, wer er ist. Was ist mit Ihnen?«
John Nielsen sah ihn eine Weile an.
»Was können Sie eigentlich machen, wenn Sie ihn erwischen? Für was können Sie ihn belangen?«
Olle Ivarsson lachte kurz auf.
»Ja, etwas werden wir schon finden: Autodiebstahl, Körperverletzung, Waffenmissbrauch, Grabschändung, vielleicht. Sind Sie zufrieden?«
Nielsen hob ein wenig die Schultern.
»Aber nicht für Anna-Greta oder die anderen beiden?«
»Nein, da können wir nichts mehr machen. Das ist zu lange her, das wissen Sie.«
Olle Ivarsson starrte auf den Teller vor sich.
»Aber wir hätten wenigstens jemanden, den wir fragen könnten«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Und das ist ja schon verdammt viel, mehr als wir damals hatten, vor achtundzwanzig Jahren.«
In der Nacht kam der Schmerz, diffus, fließend. Zuerst begann er wie üblich im Bein. Dann wurde er zunehmend abstrakter, nicht mehr lokalisierbar. Eine Säule aus Schmerz zog sich durch seinen Körper, stieg auf, versank und kehrte zurück. Nach und nach zwang er ihn aus dem Schlaf in einen halb wachen Zustand aus Übelkeit und Erschöpfung.
Er setzte sich auf die Bettkante, wiegte sich vor und zurück. Wenn er sich bewegte, verschwand der Schmerz in der Regel. So als würde es ihm genügen, auf sich aufmerksam gemacht zu haben, seine Existenz anzumahnen, oder er wollte einfach nur Gesellschaft haben.
Er lauschte hinaus ins Wohnzimmer. Dort war es jetzt still. Ivarsson schlief anscheinend. Von seinem letzten Besuch wusste er, dass nämlich auch dieser nachts oft auf war. Er grinste bei der Vorstellung, wie sie beide sich ablösen würden bei ihrer nächtlichen Beschäftigung, hinaus in die Dunkelheit zu starren, in der schwache, gedämpfte Lichter aus anderen Fenstern verrieten, dass auch andere in diesem kleinen Ort wach waren, herumliefen und in die Nacht hinaussahen.
Er überlegte, welchen Sinn sein Kommen hatte. Was würde er ausrichten können? Außer mit Leuten zu plaudern, sich zu erkundigen und zuzuhören? Die Untersuchung sowie die Identifizierung der Leichen fanden an einer anderen Stelle statt. Und der Mann, der auf dem Waldweg aufgetaucht war, befand sich höchstwahrscheinlich an einem ganz anderen Ort, weit weg von Bräcke.
Das Bild von Anna-Greta Sjödin erschien wieder vor seinen Augen. Die lebende Anna-Greta, wie sie dort stand, in dem weichen, grauen Sommernachtslicht. An der Schwelle zum Leben. Und zum Tod. Auf sie wollte er sich konzentrieren, beschloss er. Nicht, um die Lösung zu finden, um etwas verborgen Gebliebenes zu entdecken, sondern um sie wieder zurück ins Licht zu holen, sie wieder dort stehen zu sehen, wenigstens für einen kurzen Augenblick.
3
Er hatte Nielsen früh am Morgen ins Taxi steigen sehen. Er ließ den Wagen vorbeifahren und wartete eine Weile, ehe er startete, wendete und ihm auf die Durchfahrtsstraße hinaus und weiter auf die Autobahn folgte. Die ganze Zeit über ließ er immer ein paar Autos zwischen ihnen, hielt genauso viel Abstand, dass er den Blickkontakt nicht verlor. Als das Taxi die Abfahrt zum Flughafen Arlanda nahm, fuhr er weiter, beobachtete es eine Zeit lang im Rückspiegel und ließ es dann aus seiner Sicht gleiten. Er hatte das Ziel dieser Fahrt von vornherein gekannt, sich aber dennoch entschieden, ihm zu folgen und sich zu vergewissern, dass sich nicht im letzten Augenblick noch etwas änderte. Außerdem hatte er keine Eile.
Am Nachmittag kehrte er zurück zu dem Haus und parkte ein Stück weiter den kleinen Kiesweg hinunter, auf einem Platz, den die Besucher des Erholungsgebietes in der Nähe häufig benutzten. Die Uhr zeigte bereits drei. Eine Weile blieb er im Wagen sitzen und sah hinaus in die zunehmende Dämmerung, dachte zurück an die kurze Begegnung am Morgen.
An das Gefühl der Erregung, als das Taxi dicht vorbeifuhr und ihre Blicke sich für den Bruchteil einer Sekunde trafen. Nielsens breites Gesicht, die trügerische Trägheit darin. Das Gesicht eines Schwerarbeiters, dachte er. Ein Gesicht, das nicht viel von sich preisgab. Aber der Blick war eindringlich und aufmerksam, registrierend. Ein Blick, der Details bemerkte und erinnerte. Oder irrte er sich? Er schüttelte leicht den Kopf. Nein, er irrte sich nicht. Da war etwas, das er wiedererkannte, eine
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