Verschollen
Netzhaut nahm er das Telefonbuch und suchte den Namen Bernt Larsson.
Das Haus sah sehr neu aus. Ein großes, zweigeschossiges Gebäude aus grau lasiertem Holz. Keines von den gewöhnlichen kleinen Einfamilienhäusern, registrierte Nielsen, während er aus dem Taxi stieg und seinen schweren Körper aufrichtete. Es sah vielmehr nach dem Entwurf eines Architekten aus, auf jeden Fall kostspielig und nicht das, was er erwartet hatte.
Er blieb einen Augenblick draußen im Hof stehen, studierte die Umgebung. Das Haus lag erhöht, bei gutem Wetter war die Aussicht bestimmt beeindruckend. Jetzt aber war alles Grau in Grau. Schneeregen hatte eingesetzt. Er versuchte sich zu orientieren, herauszufinden, in welcher Richtung das Zentrum der Ortschaft lag, gab aber rasch auf. Missmutig stellte er fest, dass alles gleich aussah, wohin man den Blick auch wandte. Gewaltige Bergrücken, die anstiegen und im grauen Dunst verschwanden. Er stellte sich vor, wie er monatelang dort herumirren würde, ohne irgendwo anzukommen. Und vermutlich ohne dass irgendjemand nach ihm suchen würde, dachte er und grinste.
Er drehte sich um und ging auf das Haus zu, nahm die Treppe mit einem Schritt, klopfte und wartete.
»So, so, Sie wollen rauf zu Larsson?«, hatte ihn der Taxifahrer mit einem Seitenblick gefragt. »Weiß er denn, dass Sie kommen?« Etwas verwundert hatte Nielsen seinen Blick erwidert. »Ja, das hoffe ich doch. Zumindest habe ich ihn angerufen und mit ihm gesprochen.« Der Taxifahrer nickte. »Gut. Gewöhnlich mag er nämlich keinen Überraschungsbesuch. Oder sagen wir, er mag überhaupt keinen Besuch.«
Bernt Larrson war schmächtig, kleinwüchsig. Sein Gesicht mit den graublauen Augen war auffällig klein und schön geschnitten. Er sah deutlich jünger aus, als die siebenundvierzig oder achtundvierzig Jahre, die er sein musste. Seine Bewegungen waren geschmeidig und leicht, als er sich umdrehte und durch den Flur in die geräumige Küche ging, mit dem Kopf zu einem der Stühle am Küchentisch nickte und gegenüber Platz nahm.
»Sie wollten reden.«
John Nielsen nickte.
»Über Anna-Greta Sjödin. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Sie wohl zu denjenigen zählen, die sie am besten gekannt haben.«
Bernt Larsson legte den Kopf schief.
»Ich habe gelesen, was Sie letztes Frühjahr geschrieben haben«, sagte er. »Und mittlerweile ist ja noch so einiges hinzugekommen. Muss da unbedingt noch mehr geschrieben werden?«
Nielsen sah ihm in die Augen.
»Vielleicht nicht. Aber ich finde auch nicht, dass es Schaden anrichten könnte. Oder wie sehen Sie das?«
»Sie wissen doch, wie es hier war? Mit all den Gerüchten?«
»Gerade deshalb wäre es doch gut, sich ein wenig Klarheit zu verschaffen.«
Bernt Larsson ließ seinen musternden Blick nicht von ihm ab.
»Und Sie glauben, dass Sie das tun können? Reißen Sie da den Mund nicht ein wenig zu sehr auf? Obwohl ich natürlich was erzählen kann, wenn Sie wollen.«
Er sah zum Fenster und strich sich über das Kinn.
»Tja«, fuhr er dann gedankenverloren fort. »Das ist so lange her. Aber gleichzeitig vergisst man es einfach nicht. Wir kannten uns seit der Grundschule, Anna und ich. Dritte Klasse. Zu der Zeit sind wir hierher gezogen, Mutter und ich.«
Er wandte sich zu Nielsen und lachte kurz auf.
»Sie hat mich an die Hand genommen, die Anna.«
John Nielsen runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
Bernt Larsson zuckte leicht mit den Achseln. »Nun, wissen Sie. Neu hinzugezogen. Neu in der Klasse. Kleinwüchsig. Keinen Vater, so etwas war zu der Zeit ja noch viel schwieriger...«
»Wurden Sie gehänselt? Schikaniert?«
»Das kann man wohl sagen. Bis ich mich gewehrt habe. Dann wurde es ruhig.« Er lachte wieder. »Aber Anna hat sich eingemischt und Partei für mich ergriffen. Schon von Anfang an. Sie war so. Seitdem waren wir befreundet. Diese Anfangszeit hatte viel damit zu tun. Es war wie ein Pakt.«
Er verstummte. John Nielsen nickte, wartete.
»Und später dann, waren Sie da genauso viel zusammen? So als Teenager, auf dem Gymnasium?«, fragte er schließlich.
Bernt Larsson schüttelte den Kopf.
»Es wurde weniger. Ich habe in der Neunten mit der Schule aufgehört, bin abgehauen und für ein paar Jahre zur See gefahren.«
John Nielsen sah ihn erstaunt an.
»Zur See?«
»Ja, aber nicht auf dem Storsee, wenn Sie das dachten.«
Bernt Larsson legte seinen Kopf erneut auf die Seite. Wieder dieses flüchtige Lächeln.
»Ich bin ein paar Jahre weg gewesen. War
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