Verschollen
zuerst Stewart auf einem der Schiffe der Amerika-Linie. Dann hauptsächlich auf der Ostsee. Und einige Trips durch den Kontinent auf kleinen Kähnen. 1976 oder so bin ich nach Hause zurückgekehrt.«
Nielsen betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn.
»Dann waren Sie also gar nicht hier, als Anna-Greta Sjödin verschwand?«
Bernt Larsson schüttelte den Kopf.
»Nicht mehr seit der Neunten, wie gesagt. Aber wir haben uns immer Briefe geschrieben. Und ich war ja auch ein paar Male zu Hause. Wir haben nie wirklich den Kontakt verloren.«
»Und 1972, als es passierte?«
»In diesem Sommer lagen wir in Rotterdam, ewig lange. Es war eine Fracht mit Maschinenteilen, die nie gelöscht wurde. Aber ich habe natürlich davon erfahren. Häppchenweise, gewissermaßen. Über die Zeitungen, die man ergattern konnte. Und wir haben ja auch schwedisches Radio empfangen.«
Er schwieg eine Weile. Sein Gesicht hatte einen verbissenen Ausdruck angenommen.
»Ich konnte es nicht fassen, es einfach nicht glauben. Dass das passiert sein sollte. Und dass es Anna war. Das war so unwirklich. Und später, als ich nach Hause kam, war es praktisch unmöglich, über sie zu sprechen oder ihren Namen laut zu sagen. Es ist so viel Scheißdreck passiert.«
Er verstummte erneut, richtete sich dann auf.
»Tja, bis jetzt ging es hauptsächlich um mich. Aber Sie sind ja eigentlich gekommen, um über sie zu sprechen, nicht wahr? Sie wollen wissen, wie sie war?«
Plötzlich lachte er laut auf.
»Wussten Sie, dass sie verflucht
stark
war? Sie hat mich immer besiegt, wenn wir gekämpft haben. Ja, nicht, dass das so viel aussagt.« Er breitete in einer ironischen Geste die Arme aus, als würde er auf seine eigene physische Unzulänglichkeit hinweisen wollen. »Aber es gab kaum einen, der sie bezwingen konnte. Ich glaube, dass sie die Stärkste in der Klasse war, bis weit in die Oberstufe.«
Er schüttelte den Kopf, leise vor sich hin lachend.
»Aber sie war auch in anderer Hinsicht stark. Sie wagte es, sich zu behaupten, zu sagen, was sie meinte. Immer. Das hatte sie wohl von zu Hause mitbekommen, vermute ich. Von Karl-Erik, ihrem Papa. Dass es
gerecht
zugehen sollte. Und dass man protestieren musste, wenn dem nicht so war.«
Er hielt erneut inne.
»Tatsache war auch, dass sie in diesem Punkt etwas kindlich, fast naiv war. Es schien, als würde sie glauben, dass alles gut werde, wenn man sich nur so verhielt. Wenn man sagt, was man denkt. Für alles gäbe es dann eine Lösung. Tief im Inneren seien alle Menschen anständig und ließen sich zur Vernunft bringen. Aber so ist es eben nicht. Oder, Nielsen? Es gibt eben welche, die man nicht zur Vernunft bringen kann, die es nicht einmal verstehen. Das hat sich ja leider gezeigt.«
Er sah Nielsen eine Weile beinahe herausfordernd an. Dann holte er tief Luft, starrte mit zusammengepressten Lippen vor sich hin.
»Apropos naiv, nun... Sie war ja fast noch ein Kind, als es geschah. Teenager. Sie war noch nicht einmal zwanzig. Da hat man doch noch das Recht, an das Gute im Menschen zu glauben! Sollte es nicht sogar so sein?«
John Nielsen nickte. Bernt Larsson warf ihm einen schnellen Blick zu.
»Wollen Sie übrigens ein paar Fotos von ihr sehen? Ich habe sie hervorgekramt, als Sie anriefen. Sie haben hier lange gelegen, ich wollte sie eigentlich nie wieder ansehen.«
Das Wohnzimmer war mit anspruchsvoller Eleganz möbliert: ein paar Lehnstühle, ein Sofa, ein Couchtisch, ein Bücherregal an einer Wand, alles augenscheinlich mit großer Sorgfalt ausgewählt. Gleichzeitig vermittelte es den Eindruck, nicht häufig benutzt zu werden, dachte John Nielsen. Genauso wie der Rest des Hauses. Alles wirkte wie selten bewohnt. So als handelte es sich eher um ein Musterhaus.
Er ging an das Bücherregal, zog eines der Bücher heraus und hob die Augenbrauen.
»Tschechow?«, sagte er. »So etwas lesen Sie?«
Bernt Larsson lachte.
»Was haben Sie denn erwartet, Liebesromane von Sigge Stark?«
Nielsen setzte seinen Weg am Bücherregal entlang fort. »Auf jeden Fall nicht das hier. Es sieht so aus, als hätten Sie einen Großteil der Weltliteratur hier stehen.«
»Das kann ich genauso gut alles auf einer Auktion erstanden haben, oder was wollen Sie damit sagen?«
Bernt Larsson sah ihn eine Weile an, noch immer lächelnd. Dann ging er hinüber zu einer Kommode in der einen Ecke des Zimmers.
»Es fing an, als ich auf See war«, sagte er über die Schulter hinweg. »Irgendetwas muss man ja machen, dachte ich. Danach
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