Verschollen
wohl auch kaum.«
Sie schwieg einen Augenblick.
»Und was bringt es schon, etwas herauszubekommen? Jetzt. Nichts davon kann mehr ungeschehen gemacht werden. Wer wird glücklicher, wenn er weiß, was damals wirklich geschehen ist? Ich nicht. Mama und Karl-Erik vielleicht. Wenn sie noch leben würden. Aber jetzt hat das keinen Sinn mehr. Außer vielleicht um die Neugierde bei einem Haufen Leute zu befriedigen, die nichts mit der Sache zu tun haben. Und die alles in wenigen Tagen wieder vergessen haben.«
Nielsen schwieg und versuchte sich ihr Gesicht vorzustellen. Er hätte sie gerne gesehen. Ob es eine Ähnlichkeit mit Anna-Greta gab - wie sie heute ausgesehen hätte?
»Wenn sie es überhaupt gewesen ist, die man gefunden hat«, fügte Carina Holmlund plötzlich hinzu.
»Glauben Sie das nicht?«
»Wenn Sie das alles gehört hätten, was ich im Laufe der Jahre zu hören bekam, wären Sie genauso skeptisch.«
Sie lachte bitter, ehe sie fortfuhr.
»Doch, vermutlich ist sie es. Daran gibt es wohl keinen Zweifel. Obwohl das so unwirklich ist mittlerweile. Und es ist so sinnlos. Ich glaube noch nicht einmal, dass Karl-Erik besonders erleichtert gewesen wäre, dass es etwas für ihn verändert hätte.«
Sie verstummte für einen Augenblick, sprach dann aber weiter.
»Ja. Sie wissen natürlich, was so geredet wurde. Dass er es gewesen sein soll... Er war nicht mein leiblicher Vater, das wissen Sie sicher auch. Ich war fünf, als sie heirateten. Ich glaube übrigens, dass ich ihn nie Papa genannt habe, nur Karl-Erik. Sie war sein leibliches Kind. Außerdem war sie immer ›seine Kleine‹. Ich vermute, dass er sich wünschte, dass es für immer so bleiben würde. Das tun vielleicht alle Väter. Aber, dass er etwas mit ihrem Verschwinden zu tun haben sollte, dass er sie jemals angefasst haben soll... Ja, das ist so lächerlich, dass ich dazu noch nicht einmal was sagen will!«
Sie verstummte erneut.
»So, jetzt haben Sie Ihr Interview ja doch noch bekommen, kann man sagen, oder? Sind Sie zufrieden?«
John Nielsen blieb zunächst stumm.
»Es geht nicht darum, ob ich zufrieden bin oder nicht«, sagte er schließlich. »Ich versuche nur, eine Ahnung davon zu bekommen, wer sie gewesen ist.«
»Ja, da kann ich Ihnen nicht helfen, auch wenn ich wollte. Ich kann kaum etwas über sie sagen. Ich war sechs Jahre älter und bin von zu Hause ausgezogen, bevor sie richtig heranwuchs. Und dann - als sie verschwand und alles, was danach passierte - ist das Bild von ihr zerfallen, es hat sich aufgelöst, ist irgendwie auch verschwunden. Verstehen Sie? Ich
kann
ganz einfach nichts über sie sagen!«
Sie schwieg.
»Sie sollten mit Bernt Larsson sprechen«, sagte sie nach einer Weile. »Er müsste einiges erzählen können. Wenn er Lust hat. Er hat sie vielleicht am besten von uns allen gekannt.«
»Ihr Freund?«
»Eher ein Kumpel. Glaube ich zumindest. Die waren seit der Grundschule befreundet.«
»Bernt Larsson«, sagte Nielsen nachdenklich. »Und er lebt noch hier in der Gegend?«
Carina Holmlund lachte leise.
»Sie meinen, weil ihn noch keiner erwähnt hat? Doch, doch, den gibt es noch.«
John Nielsen blieb eine Weile im Schlafzimmer sitzen und sah sich um. Dann stand er auf, ging zum Schreibtisch am Fenster, zog eine Schublade nach der anderen heraus und warf einen Blick auf den Inhalt. Er ging zur Kleiderkammer, öffnete die Tür und schaute hinein. Er spürte kurz den Hauch eines schlechten Gewissens, ein Unbehagen, dennoch konnte er sich nicht beherrschen und trat in den engen Raum. Mit prüfendem Blick besah er sich die Anzüge, die dort hingen, er zählte sieben Stück. Er schüttelte den Kopf und lachte, schob sie beiseite und sah eine Reihe von Hemden und eine beinahe unüberschaubare Anzahl von Krawatten.
Etwas ganz hinten an der Wand erregte seine Aufmerksamkeit, er streckte sich danach, zog das Kleidungsstück zu sich heran und erstarrte bei dem Anblick. Ein Kleid, rot. Wahrscheinlich schon seit Jahren nicht mehr getragen. Ja, womöglich noch länger, seit Jahrzehnten, dachte er, während er am Stoff herumfingerte. Steif und zerbrechlich in seinen Händen, als könnte er jeden Augenblick zerfallen. Schnell zog er seine Hand zurück, schob das Kleid zurück, trat dann hastig aus der Kammer und schloss die Tür.
Er setzte sich wieder aufs Bett und starrte vor sich hin. Dafür gab es vermutlich eine einfache Erklärung. Aber er hatte keine Ahnung, wie er die Frage stellen sollte.
Mit dem Kleid auf der
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