Verschollen
Ich habe das erst ein halbes Jahr später erfahren. Er war verheiratet gewesen und wieder geschieden worden. Sie haben mich wohl aus den Augen verloren.«
Er schwieg eine Weile und runzelte die Stirn. Wer war sein Vater eigentlich gewesen? Das war ein Rätsel, an dem er eigentlich interessiert sein müsste. Dennoch fühlte er nichts, nicht einmal Gleichgültigkeit. Auch das war Teil des Rätsels.
»Und Ihre Mutter?«
Er drehte sich zu Bernt Larsson, einerseits irritiert, andererseits amüsiert von der Eindringlichkeit, mit der er fragte.
»Sie sind dabei, sich meiner Schmerzgrenze zu nähern«, sagte er und war sich bewusst, dass er das auch so meinte.
Bernt Larsson zuckte mit den Achseln. »Ich habe Sie noch nicht schreien hören.«
Nielsen seufzte resigniert.
»Sie war wohl ein bisschen zu jung damals. Hat das nicht geschafft. Ich habe die meiste Zeit bei einem ihrer Brüder und dessen Frau gewohnt. Sie wurden meine Ersatzeltern. Ein paar Mal hat sie versucht, mich mit zu sich nach Hause zu nehmen, aber das haute nie so richtig hin. Ich wollte immer wieder zurück zu Janne und Kerstin.«
Aus der Jackentasche holte er eine Zigarettenschachtel, hielt sie hoch und sah fragend auf Bernt Larsson, der den Kopf schüttelte. Er drehte das Fenster auf seiner Seite herunter und zündete sich eine Zigarette an. Er spürte, wie der eiskalte Fahrtwind gegen sein Gesicht schlug.
»Als ich etwa zehn war, hat sie einen Wochenendtrip mit einem dieser Ålandschiffe gemacht und ist mit ein paar Arbeitskollegen fortgefahren. Und nie zurückgekehrt.«
Bernt Larsson warf ihm einen fragenden Blick zu. »Was ist passiert?«
Nielsen zuckte mit den Schultern. »Man weiß es nicht genau. Ein Unfall. Selbstmord. Verbrechen. Es ließ sich nicht aufklären. Man hat auch nie ihre Leiche gefunden. Aber ihre Sachen waren alle noch in ihrer Kabine. Bis auf die Kleider, die sie getragen hat und ein bisschen Geld und Schmuck vielleicht.«
Er versuchte, die Asche aus dem Fenster zu schnippen.
»Ich habe natürlich darauf gewartet, dass sie zurückkommen würde. So wie Kinder nun einmal sind. Habe gehofft, dass es alles nur ein großer Irrtum war...«
»Und Sie haben nie versucht herauszubekommen, was geschehen ist?«, fragte Bernt Larsson.
John Nielsen sah hinüber zu der kleinwüchsigen Gestalt neben sich. »Und nun glauben Sie sicher, deuten zu können, aus welchem Beweggrund ich in dieser Geschichte so herumwühle?«, sagte er.
Bernt Larsson schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich werde kein einziges Wort in diese Richtung sagen. Außer Sie legen ein vernünftiges Honorar auf den Tisch. Solche Gutachten bekommt man nämlich nicht umsonst!«
Nielsen lachte, zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und ließ sie durchs Fenster verschwinden. Aber natürlich war das in gewisser Weise der Grund, dachte er. Das hing alles miteinander zusammen. Das tat es schließlich immer. Das ganze Leben war ein verworrenes Durcheinander von Ursache und Wirkung, bei dem man nicht mehr sagen konnte, was was war.
»Einmal in all den Jahren hatte ich wohl den Wunsch, das Rätsel zu lösen. Ihrer Spur zu folgen. Aber ich habe eingesehen, dass zu viel Zeit vergangen war. Es gab nichts mehr zu klären.«
Er schüttelte wieder den Kopf.
»Es ist wie mit Anna-Greta Sjödin«, sagte er schließlich. »Oder mit den Geschwistern Härlin. Es ist zu lange her. Man kann nur noch rätseln und Vermutungen anstellen.«
»Stimmt vielleicht. Aber es gibt Unterschiede. Vor allem, was die Härlins betrifft.«
Bernt Larssons Gesicht hatte wieder denselben, konzentrierten und verbissenen Ausdruck wie zuvor angenommen.
»Inwiefern denn?«
»Nun, Kaj Härlin hat sich gemeldet und eine Spur hinterlassen.«
Er war noch langsamer geworden, kroch förmlich am Straßenrand entlang und drehte sich zu John Nielsen.
»Er will, dass wir wissen, dass es ihn gibt, dort draußen irgendwo. Merken Sie das denn nicht?«
Nielsen schüttelte den Kopf.
»Desirée Härlin war krank, wussten Sie das nicht?«, sagte er. »Chronisch krank. Sie wäre vermutlich heute gar nicht mehr am Leben.«
Er erzählte in knappen Worten von seinem Gespräch mit Marianne Linde, aber Bernt Larsson winkte wütend ab.
»Ich pfeife darauf, wie krank sie angeblich gewesen sein soll. Und woher wissen Sie überhaupt, dass es die Wahrheit ist. Haben Sie das überprüft?«
Nielsen seufzte.
»Nein, und ich gedenke es auch nicht zu tun. Ich glaube nicht, dass es notwendig ist. Es ist dreißig Jahre her. Keiner kann
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