Verschwiegen: Thriller (German Edition)
Account, wahrscheinlich auf Anordnung der Staatsanwaltschaft, die alles beschlagnahmte, was er jemals dort geschrieben hatte. Aber mit selbstmörderischer Sturheit eröffnete er einen neuen Account unter dem Namen »Marvin Glasscock« und lud seine engsten Freunde wieder ein. Er machte daraus kein Hehl, und ich war außer mir. Überraschenderweise schlug Laurie sich auf Jacobs Seite. »Er ist ganz allein«, meinte sie. »Er braucht Kontakte.« Mit allem, was sie tat, mit allem, was sie jemals tat, versuchte sie stets, ihrem Sohn zu helfen. Jacob sei derzeit vollständig isoliert, beschwor sie mich, und seine Online-Kontakte seien ein so notwendiger und integraler Bestandteil seines Soziallebens, dass es grausam wäre, wenn man ihm die vorenthalten würde. Ich erinnerte sie daran, dass die Staatsanwaltschaft des Bundesstaates Massachusetts die Absicht hatte, ihm noch viel mehr vorzuenthalten, und wir kamen überein, die Nutzung des Accounts zu beschränken. Jacob durfte das Passwort nicht ändern, damit wir seine Nachrichten einsehen und allenfalls verändern konnten. Er durfte nichts versenden, was auch nur im Entferntesten mit dem Fall zu tun hatte, und wir untersagten ihm, Fotos oder Videos zu verschicken. Wenn die einmal im Internet waren, verlor man jede Kontrolle über ihre Nutzung und ihren Umlauf.
Und so begann ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem ein intelligenter Junge versuchte, in vagen Anspielungen über seine Situation zu witzeln und sich nicht von seinem Vater erwischen zu lassen.
Zu lesen, was Marvin Glasscock die Nacht zuvor auf Facebook geschrieben hatte, wurde für mich Teil meiner morgendlichen Routine: zuerst Gmail, dann Facebook, dann auf Google unter »Jacob Barber« die neuesten Nachrichten zu dem Fall. Wenn alles in Ordnung war, tauchte ich für ein paar Minuten ins Internet ein, um den ganzen Alltagsmist zu vergessen.
Die größte Überraschung war für mich die Tatsache, dass mein Sohn in seiner Reinkarnation als Marvin Glasscock überhaupt noch Freunde hatte. Im wirklichen Leben hatte er nämlich keine mehr. Er war absolut allein. Niemand rief ihn an oder besuchte ihn. Er war vom Unterricht suspendiert worden, ab September würde die Stadt für ihn Privatunterricht bezahlen müssen. Das war gesetzlich vorgeschrieben. Seit Wochen hatte Laurie mit der städtischen Schulverwaltung über die Stundenzahl verhandelt. Inzwischen schien er keinen einzigen Freund mehr zu haben. Die Kids, die mit Jacob noch online Kontakt hatten, gingen ihm als realer Person aus dem Weg. Es war nur eine Handvoll, das stimmt, die Marvin Glasscock als Freund annahmen. Vor dem Mord hatte Jacob 474 Freunde auf Facebook gehabt, alles Kids, die Jacobs Einträge verfolgten und denen er wiederum antwortete. Die meisten Namen sagten mir nichts. Nach dem Mord blieben davon nur noch vier, einer davon war Derek Yoo. Ich frage mich, ob diese vier oder auch Jacob jemals begriffen, dass jeder Eintrag, jeder Klick auf der Tastatur aufgezeichnet wurde. Nichts, aber auch gar nichts, was sie im Netz taten, blieb privat. Und anders als bei einem Telefonanruf, ging es hier um eine schriftliche Form von Kommunikation. Das Netz ist der Traum eines jeden Staatsanwalts – es zeichnet die intimsten, unglaublichsten, persönlichen Geheimnisse auf, Dinge, die man niemals laut sagen würde. Es ist viel besser als die Telefonleitung, es ist eine Leitung, die direkt an unser Gehirn angeschlossen ist.
Es war natürlich nur eine Frage der Zeit. Früher oder später würde Jacob bei einer seiner nächtlichen Surf-Sessions im Netz einen der typischen blöden Teenagerfehler machen. Und Mitte August war es dann so weit.
An einem Sonntagmorgen schaute ich mir Marvin Glasscocks Facebook-Account an und sah ein Bild von Anthony Perkins aus dem Film Psycho : jene berühmte Silhouette, die ein erhobenes Messer in der Hand hält, um Janet Leigh in der Dusche zu erstechen. Doch der Schattenriss hatte Jacobs Gesicht, mithilfe von Photoshop war Jacob zu Norman Bates geworden. Die Aufnahme stammte aus einem Partyfoto. Unter die Collage hatte Jacob geschrieben: »So sehen mich die anderen.« Seine Freunde antworteten darauf: »Siehst aus wie eine Frau.« – »Superjob. Wäre ein tolles Foto für dein Profil.« – »Wee-wee-wee (die Musik aus Psycho ).« – »Marvin Glasscock! Der Mann mit den zwei Gesichtern.«
Ich löschte das Foto zunächst nicht. Ich wollte Jacob damit konfrontieren und trug den summenden Laptop nach oben.
Er war in seinem Zimmer und
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