Verschwörung beim Heurigen
ihm die Tränen, und bevor es jemand bemerkte, schwang er sich aufs Rad. Bob blieb unerreichbar und Johanna weiter weg als
jemals zuvor. Sie hatten sich verlaufen, sich aus den Augen verloren und waren dabei, sich zu vergessen. Jetzt, wo ich sie
am dringendsten brauche, ist sie nicht da, ist zu diesem Tunnel – oder ist sie woanders? Wo war ich, als sie mich gebraucht
hat in dem Jahr, bevor sie zu Environment wechselte? Wieso hat sie mich nicht um Hilfe gebeten? Habe ich es nicht gehört oder
sie nicht verstanden, nicht verstehen wollen? Scheiße, alles nur Selbstmitleid – er war an allem selber schuld. An seinem
ganzen beschissenen Leben war er selbst schuld.
Der Rucksack mit den Unterlagen verrutschte ständig, es war eine Tortur, damit zu fahren. Die sieben Kilometer bis Purbach,
in Gedanken versunken hatte er wieder den Weg entlang der B 50 mit den qualmenden Lastern genommen, |279| kamen ihm wie eine Ewigkeit vor. Schweißüberströmt betrat er das Apartment, ging schnurstracks unter die Dusche, kochte eine
Kanne Kaffee und machte sich an die Arbeit. Als Erstes verschaffte er sich auf den Landkarten einen Überblick.
Von Wien kam die Autobahn 3 herunter und endete in Eisenstadt. Von hier führte eine Schnellstraße, die S 31, im Süden am See
vorbei bis kurz vor die ungarische Grenze. Nördlich von Wien kam eine weitere Autobahn herunter, die A 6. Sie passierte Bruck, dann Parndorf und führte an der nördlichen Seespitze vorbei. Es ging um die Verbindung von Eisenstadt
nach Bruck parallel zum See. An der Verlängerung nach Bratislava für den zunehmenden Verkehr aus Osteuropa an die Adria wurde
bereits gebaut.
Das Wichtigste, was ihm unter den akribisch gesammelten Dokumenten in die Hände fiel, war eine Variantenstudie zum Ersatz
der Bundesstraße 50 durch eine Autobahn aus dem Jahr 2000. Wenn er sich recht erinnerte, stammte die Autokarte der Ungarn, die ihn nach dem Weg gefragt hatten, von 1998. Dann war das alles von langer Hand geplant.
Variante 1 war die Seetrasse, der er bereits auf der Karte der Ungarn begegnet war. Sie sollte auf Grund von Verkehrsprognosen
vierspurig ausgebaut werden. Das wäre das Ende des Neusiedler Sees als Sportrevier und Naturschutzgebiet. Binnen kurzem wären
die Vögel aus dem Schilfgürtel verschwunden, der Wildbestand auf Mücken reduziert, die Abgase würden auf den See getrieben,
und der Lärm wäre unbeschreiblich. So lauteten Marias Anmerkungen auf dem Blatt.
Variante 2 stellte die Leithagebirgstrasse dar: Sie sollte zwischen den Ortschaften am See und dem Leithagebirge verlaufen,
mitten durch Wiesen und Weingärten. »Der Wind trägt Abgase und Lärm in die Orte«, hatte Maria vermerkt, »jede neue Autobahn
zieht Verkehr an, Vernichtung des Weins durch Abgase (Rückstände im Wein?/Boden?) und Versiegelung der Erde durch Straße,
Zufahrten und Baustellen. Umfährt den Esterházy-Tiergarten.«
|280| Letzteres sagte Carl nichts. Er wusste zwar, dass die Esterházys zu den größten Landbesitzern im Burgenland gehörten, ihr
Besitz entsprach mit 44 000 Hektar Land fast der gesamten burgenländischen Weinbaufläche von 51 000 Hektar, auch ein Teil des Sees war ihr Eigentum, aber von einem Tiergarten hatte er bislang nichts gehört. Wer hatte erwähnt,
dass ohne die Esterházys nichts lief? Wahrscheinlich hatten die Planer deshalb das Gelände ausgespart.
Und dann gab es noch die dritte Variante, die sogenannte Kammtrasse. Sie umfuhr den Tiergarten großräumig, allerdings im Norden
und sollte im Wald abwechselnd durch Tunnel und über Brücken parallel zur Landesgrenze Burgenland-Niederösterreich führen
und bei Bruck an die A 4 anschließen. Sie war wegen der notwendigen Bauten die teuerste Option.
Hierzu hatte Maria »Waldvernichtung« an den Rand geschrieben und »das gleiche Schadstoffaufkommen«: denn der Wind wehte meist
aus Westen, desgleichen die Eingriffe in den Wasserhaushalt. Lediglich der Lärmpegel war niedriger, und die Scheinwerfer der
Autos sah man nachts nicht. Marias Notiz lautete: »Aus den Augen, aus dem Sinn!– deshalb befürwortet die Bevölkerung diese
Version« Dass der Wildbestand erheblich verringert würde und damit der Verbiss an jungen Trieben im Frühjahr und an Trauben
vor der Lese, würde Winzern eher willkommen sein.
»Rückstände prüfen!« und »Klimaveränderung Statistik!« stand da in Marias mädchenhafter Handschrift.
Die »kleinräumigen
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