Verschwörung beim Heurigen
Adressen hatte er gestern bereits herausgefunden. Um neun Uhr war er
im Verkehrsministerium, kurz vor der Mittagspause bei der staatlichen Aktiengesellschaft, die das Autobahnnetzplante, finanzierte
und bauen ließ und die Mautgebühren eintrieb. Im Umweltministerium wartete er, bis die Mittagspause vorüber war, sprach dann
mit einigen Mitarbeitern, und gegen 17 Uhr fand er mit Hilfe eines befreundeten Stuttgarter Journalisten bei der Wirtschaftszeitung einen Fachmann für Verkehrsfragen,
Lobo Jammer, den Jammernden Wolf, wie ihn die Kollegen zum einen wegen seines Faibles für nordamerikanische Indianer nannten,
zum anderen wegen dauernder Klagen über Korruption im Lande.
Lobo Jammer machte ihm jede Menge Material über Autobahnen, Korruptionsfälle und die jeweiligen Baugesellschaften sowie »galante
Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft« zugänglich. Er würde ihm auch weiterhin helfen, wenn er alles, was Carl aufdecken
würde, exklusiv zur Veröffentlichung bekäme. Carl willigte ein. Er hatte mehr erreicht, als er zu hoffen gewagt hatte.
Kurz vor 21 Uhr war er zurück, den Rucksack vollgepackt mit Arbeit für mindestens zwei Tage und Nächte. Johanna war nicht da. Statt zu
kochen gönnte er sich ein opulentes Menü in »Pauli’s Stuben«. Als Vorspeise bestellte er eine Eierschwammerlterrine mit Cumberlandsoße,
danach ein gebratenes |286| Welsfilet auf Kürbisgemüse, und den Abschluss – kaum noch zu schaffen – bildete der Traubenstrudel mit Sturmschaum. Göttlich.
Er trank Wasser und einen Sauvignon blanc zum Fisch, obwohl er lieber den roten Oxhoft von 2002 probiert hätte, eine Cuvée
aus Cabernet Sauvignon, Blaufränkisch und Zweigelt und im Barrique gereift, ein berühmter Wein, wie ihm Pauli erklärte. Aber
Rotwein zum Fisch? Da war er konservativ – und immer, wenn er das Wort Zweigelt las oder hörte, versetzte es ihm einen Stich.
Der große Mocca nach dem Essen war notwendig, damit er nicht bereits auf dem Nachhauseweg einschlief.
Ich werde mich kurz hinlegen und dann arbeiten, sagte sich Carl, aber die innere Uhr, die ihn sonst verlässlich weckte, versagte,
und er erwachte vor dem Morgengrauen. In der Stille der ausklingenden Nacht konnte er sich wunderbar konzentrieren, eine ganz
neue Erfahrung für ihn. Was er an Wut und Verzweiflung empfand, setzte er in Arbeit um.
Zwischen Marias Akten, den Fotokopien von Lobo Jammer und dem Internet pendelnd fand Carl eine Homepage aus Deutschland mit
dem Titel: »Nein zur B 50 und zum Hochmoselübergang.« Demnach war auch dort eine Autobahn geplant und eine Hochbrücke wie
bei Koblenz. Einer der Bauunternehmer, namentlich aufgeführt, sollte Abgeordneter des Bundestags sein.
Bestätigte das nicht im Grunde Johannas These, dass Lobbyisten überflüssig wurden? Berlusconi hatte es allen vorgemacht. Die
Demokratie war am Ende. Lagen hier die Gründe für Johannas Verzweiflung? »Wenn du deine Feinde nicht besiegen kannst, dann
verbünde dich mit ihnen ... « Wo hatte sie das her?
Noch ein Fall, ähnlich gelagert, in Bordeaux. Als Entlastung für den Schwerverkehr nach Spanien sollte eine Autobahn quer
durch die Prestige-Appellationen Margaux und Haut-Médoc gebaut werden. Aber nach Protesten wich man nach Norden aus, und die
neue Trasse »betrifft lediglich ein |287| paar hundert Hektar am rechten Gironde-Ufer«, so der Präfekt der Region Aquitaine. Dort sollten in den nächsten drei Jahren
ohnehin zehntausend Hektar Wein gerodet werden. Experten vermuteten allerdings ein abgekartetes Spiel: Die Margaux-Trasse
habe als Bauernopfer gedient, um den Autobahnbau an anderer Stelle durchsetzen zu können.
Später fragte Carl bei Hermine Reinschitz in Frauenkirchen an, ob er ihr Büro benutzen könnte. Sie war einverstanden. »Falls
du wieder mit dem Radl kommst, beeil dich, dann kriegst du die erste Fähre von Breitenbrunn nach Podersdorf«, sagte sie lachend,
»bis zu uns sind es dann noch sieben oder acht Kilometer, die schaffst du locker.«
Mit Fritz vereinbarte er für den Abend eine Unterrichtsstunde, falls der Wind noch nicht eingeschlafen wäre. Seit dem gestrigen
Tag, seit er den Dreh raushatte, machte es Carl sogar Spaß, auf dem Brett über den See zu schippern, eklig war nur der Gummianzug.
Er schob sein Rad auf die Fähre, nahm den mit Dokumenten gefüllten Rucksack ab und fand einen Platz direkt an der Reling.
Fast lautlos, lediglich leicht vibrierend, verließ das
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