Verschwörung in Florenz
nicht mit einem Dolch in der Hand. Ob die Historiker einen Fehler gemacht hatten? Waren die Hintermänner der so genannten Pazzi-Verschwörung in Wirklichkeit ganz andere? Und hatte das Volk den Ereignissen diesen irreführenden Namen nur deshalb gegeben, weil die Pazzi am meisten davon profitierten? Wenigstens anfangs, denn danach wurden sie bestraft und aus Florenz vertrieben. Oder hatten die Medici die Lage ausgenutzt, um die Sympathien des Volkes auf ihre Seite zu ziehen und endlich ihre stärksten Rivalen loszuwerden? Hatten sie etwa den Pazzi den Mord an Giuliano in die Schuhe geschoben? Anne fand es erschreckend, wie folgerichtig und logisch ihr dieser Gedanke erschien. Die Medici waren ehrgeizig, daran gab es keinen Zweifel. Objektiv betrachtet konnte man sie durchaus als Autokraten, vielleicht sogar als Diktatoren bezeichnen. Sie hatten die Vorherrschaft in Florenz bestimmt nicht erlangt, weil alle Mitglieder der Familie Heilige waren, die alles nur zum Wohle des Volkes und ihrer Mitbürger taten. Nein. Quidproquo – das war ihre Devise. Und dabei waren sie mit allen Wassern gewaschen.
Ich muss umdenken, dachte Anne, während sie eine Hand nach der anderen schüttelte und mit jedem Mitglied der Familie Pazzi ein paar freundliche, belanglose Worte wechselte, die sich ihrerseits meist auf ein Lächeln, ein Nicken und ein »Ja, gewiss« beschränkten. Möglicherweise brauche ich Giulianos Mörder nicht irgendwo in der Ferne zu suchen. Vielleicht ist er ganz nah. Vielleicht ist er einer der Medici. Annes Herz begann schneller zu schlagen. Doch wer könnte es sein? Lorenzo? Er liebte seinen jüngeren Bruder von ganzem Herzen. Aber wenn Giuliano den Status der Medici durch sein Verhalten gefährdete – würde er dann wohl seinen Tod in Kauf nehmen, um den Einfluss und das Ansehen der Familie zu retten? Und was war mit Cosimo? Er hatte allen Grund, auf Giuliano eifersüchtig zu sein. Und er hasste offenbar die Pazzi mehr als alle anderen Medici. Abgesehen davon war bei ihm – wie man so schön sagte – eindeutig eine Schraube locker.
In diesem Augenblick stellte ihr Giuliano Giacomo de Pazzi vor, den Mann, der einst so eng mit Cosimo de Medici befreundet gewesen war. Mittlerweile waren die beiden Erzfeinde. Wenn sie Giuliano richtig verstanden hatte, so kannte niemand den Grund dafür. Niemand außer den beiden. Ob Cosimos Geisteszustand für die Trennung der beiden Freunde verantwortlich war? Anne erwartete nicht, dass Cosimo ihr die Wahrheit sagen würde, falls sie ihn je danach fragen sollte. Aber vielleicht konnte sie von Giacomo mehr erfahren. Vermutlich kannte er Cosimo besser als jeder andere Mensch in Florenz. Neugierig betrachtete sie ihn.
Giacomo de Pazzi war nicht besonders herausragend, weder in Statur noch Größe. Er war unauffälliger Durchschnitt; einer jener Menschen, deren Gesicht man sofort vergisst oder auf Anhieb zu kennen glaubt, weil sie so vielen anderen Menschen ähnlich sehen und selbst keine ausgeprägten Merkmale besitzen. Ganz anders als Cosimo de Medici, den man nicht so leicht übersehen oder gar vergessen konnte. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen den beiden Männern schien ihr überraschend jugendliches Aussehen zu sein. Obwohl beide die dreißig bereits überschritten hatten, hätte man sie für Jünglinge von neunzehn oder zwanzig Jahren halten können. Wenn da nicht diese Augen gewesen wären. Alte Augen, die nicht recht zu dem jungen Gesicht passen wollten.
Giacomo de Pazzi ergriff ihre Hand und lächelte.
»Ich freue mich, Euch endlich kennen zu lernen, Signorina Anne«, sagte er. »Ich habe schon viel von Euch gehört. Ich hoffe, Ihr fühlt Euch in unserer Stadt wohl.«
»Ich danke Euch für Eure Freundlichkeit, Signor Giacomo«, entgegnete sie und dachte an Giovanna. So verworren, sprunghaft und geistesabwesend sie war, so freundlich, herzlich und aufgeschlossen war Giacomo. Es versetzte sie immer wieder in Erstaunen, wie verschieden Geschwister sein konnten. »Mir gefällt es in Florenz sehr gut. Ich genieße das Leben hier.«
»Das freut mich zu hören«, erwiderte Giacomo, als wären nicht die Medici an diesem Abend Gastgeber, sondern er. »Und ich wünsche Euch für Euren weiteren Aufenthalt in unserer schönen Stadt beste Gesundheit.«
»Ja, danke«, sagte sie und zog das dünne Wolltuch, das sie zum Schutz gegen die Kälte um die Schultern trug, enger zusammen. Ein Diener hatte wohl eine der Türen geöffnet, und ein kalter Luftzug wehte durch die Halle.
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