Verschwörungsmelange
Manipulation empfand.
Er ließ seine Schüler selten Gedichte aufsagen. Er hatte auch
immer Verständnis für diejenigen unter ihnen gezeigt, bei denen ein solches
Ansinnen den größten Widerspruchsgeist hervorrief. Jetzt blickte Korber in
Manuela Starys unnachgiebige Augen. So leicht würde er bei ihr nicht
davonkommen.
»Es ist schwer«, gab er ihr leise zu verstehen. »So spontan,
auf Befehl.«
»Bitte versuch es, mir zuliebe.«
Korber stützte sich mit seinem rechten Ellenbogen am Tisch ab
und hielt seine Hand gegen die Stirn, wie es die großen Denker zu tun pflegen,
wenn sie auf einen Einfall warten. Leicht verschämt hielt er den Blick nach unten.
Dann begann er:
»Schläft ein Lied in allen Dingen,
die da träumen, fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.« [8]
Die paar Zeilen hatten ihre Wirkung auf Manuela
Stary nicht verfehlt. Als er seine Hand wegnahm und ihr wieder ins Gesicht sah,
merkte er, dass sie andächtig lauschte. »Schon aus?«, fragte sie irritiert.
»Ja.«
»Goethe?«
»Nein, Joseph von Eichendorff. Ein Romantiker.«
»Ich dachte Goethe. Die meisten schönen Gedichte sind von
Goethe.«
»Hat dir dieses denn nicht gefallen?«
»Doch, doch. Aber es war ein wenig kurz.«
Wieder einmal jemand, der den Maßstab in erster Linie bei der
Quantität, nicht bei der Qualität ansetzte? »Es ist zwar kurz, aber es kann uns
doch einiges sagen«, versuchte Korber zu erklären. »Es sagt uns, dass die ganze
Welt voll von wunderbaren, poetischen Dingen ist, man muss nur das Schöne an
ihnen erkennen und freilegen. Das ist sozusagen der Job des Dichters. Er kann
für alles die richtigen Worte finden und es wachküssen, wie dereinst der Prinz
das Dornröschen.«
»Mit dem Zauberwort«, lächelte Manuela Stary und öffnete
dabei ihre Lippen so, als ob sie auch geküsst werden wollte. »Ich finde, es ist
eine herrliche Idee. Aber ich mag an Gedichten vor allem den Reim und den
Rhythmus, wenn es so richtig beschwingt klingt und einen wie auf einer Wolke
schweben lässt. Und da muss es schon etwas länger dauern, damit man richtig in
Stimmung kommt. Wie viel?«, fragte sie plötzlich.
»Was?«
»Ich meine, wie viel Geld bekommst du? Für die Stunde?«
Korber winkte ab. »Heute nichts. Es war ja nur eine
Probestunde.«
»Und hast du dir schon etwas mit Reinhard ausgemacht?«
»An sich haben wir für morgen wieder eine Stunde vereinbart«,
sagte Korber, erleichtert, dass die Sache mit dem Gedicht ausgestanden war.
»In Ordnung. Komm bitte wieder um die gleiche Zeit, denn ich
bin mir beinahe sicher, dass er doch zum Training gehen wird, obwohl er derzeit
streikt.« Sie verabschiedeten sich. Korber war bereits im Gehen begriffen, da
spürte er nochmals Manuela Starys Hand auf seiner Schulter. »Und bring mir
bitte ein Zauberwort mit, ein schönes Gedicht«, hörte er sie sagen. »Aber wenn
es geht, ein bisschen länger als das heutige. Und romantisch muss es sein. Das
tut mir gut, ich spüre es.«
Noch ein Gedicht! Korber fiel die Ankündigung ein, die Heinz
Erhard seinen trefflichen Gedichtvorträgen immer vorangeschickt hatte. Und er
sollte jetzt auch …? Ein längeres romantisches Gedicht? Was verstand
Manuela Stary unter ›romantisch‹? Etwa gar ein Liebesgedicht?
Als er die Wohnung der Starys verließ, sah Thomas Korber
wieder einmal größere Probleme auf sich zukommen. Warum hatte er sich bloß auf
die Sache mit der Nachhilfe eingelassen?
*
Normalerweise
erklang im Café Heller keine Musik. Zugegeben, bei der einen oder anderen
Veranstaltung – einem Hausball etwa – kam man nicht um sie herum. Und in
früheren Jahren, als im Radio noch ›Musik zum Träumen‹ zu hören gewesen war,
hatte man die verbliebenen Gäste knapp vor der Mitternacht mit sanften Tönen
aus dem Lautsprecher auf ein friedliches Nachhausegehen eingestimmt. Sonst aber
war Musik etwas, das an diesem Ort, wo viele Menschen ihre Ruhe suchten, nur
störte.
Musik dröhnte einem sonst ohnehin überall und aus allen Ecken
entgegen. Die Leute benötigten Musik, um sich am Morgen zu waschen, um Auto zu
fahren, zu arbeiten, zu lernen, einander zu lieben und einzuschlafen. Sie
ließen sich sogar von Musik berieseln, wenn sie eigentlich nur miteinander
reden wollten, von sogenannter ›Hintergrundmusik‹. Der ganze Tag, von früh bis
spät, wurde von Musik untermalt, und es war immer weniger wichtig von welcher.
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