Verschwörungsmelange
Leopold die zwei Stufen hinaufstieg, die
jeder Gast des Café Heller vor seinem Eintreten überwinden musste, verkrampfte
sich sein Körper ruckartig. Er dachte daran, was er in den kommenden Stunden
wohl mitmachen würde. Immer wieder würde die Fußballhymne erklingen, zehn-,
fünfzehn- oder gar zwanzigmal. Schlachtgesänge würde er sich anhören müssen,
und anstatt seinen freien Sonntag zu genießen, würde er wildfremde, laute
Menschen bedienen. Anstatt die Menge zurechtzuweisen, würden Herr und Frau
Heller siegestrunken mit den Fans feiern. Und sein Freund Thomas, der Einzige,
mit dem er in dieser Situation vielleicht ein vernünftiges Wort hätte reden
können, hatte ihn schmählich verlassen.
Einmal mehr fühlte Leopold sich alt. Was war das für eine
Zeit, in der es im Kaffeehaus zuging wie in einem Biergarten? Zaghaft öffnete
er die Tür. Schwerhörig war er offenbar auch schon. Denn es umgab ihn eine
seltsame Ruhe.
Dann bemerkte er die Billardpartie am ersten Tisch, die
Tarockpartie im hinteren Teil des Lokales. Und schön langsam nahm er auch das
ehrwürdige Rascheln der Zeitungen wahr. Wie in einer Fata Morgana saß Herr
Heller, anstatt sich zum neuen Helden der Eintracht Floridsdorf ausrufen zu
lassen, mit Herrn Sedlacek bei einer Partie Schach.
»Ah, da sind Sie ja, Leopold«, turtelte ihm Frau Heller von
hinter der Theke entgegen. »Wir haben gewonnen, nicht wahr? Das ist fein.
Ziehen Sie sich jetzt nur bitte rasch um, damit Herr Waldbauer gehen kann. Ich
möchte mit dem Herausbacken der Schnitzel anfangen.«
Die Stimme klang bestimmt wie immer, dennoch war eine größere
Portion Freundlichkeit als sonst deutlich herauszuhören. Nachdenklich legte
Leopold seine Livree an und band sich das Mascherl um. Was war geschehen?
»Sind denn gar keine Fußballanhänger gekommen?«, fragte er
seine Chefin, als er zurück in den Gastraum kam.
»Doch, doch«, erwiderte sie, während sie die Schnitzel in der
Pfanne umdrehte. »Da in der Loge sitzen einige und unterhalten sich. Und hinten
spielt eine Partie Tarock, eine andere Preference.«
Tatsächlich erkannte Leopold Lukas Hamm und den Anwalt
Stamberger in einer gut gelaunten Runde, deren Lautstärke allerdings angenehm
gedämpft blieb. Leopold putzte sich das Ohr aus. Nein, er täuschte sich nicht:
keine Musik. Jetzt sah er auch, dass sich die Lautsprecher, die für einige Tage
bedrohlich von der Wand heruntergeschaut hatten, nicht mehr an ihrem Platz
befanden. »Gar keine Hymne?«, erkundigte er sich. »Keine Siegesfeier?«
»Dass Sie das nicht wissen, Leopold«, tönte es aus der
kleinen Küche. »Wir sind ein Kaffeehaus und kein Fanklub. Wenn sich die Leute
austoben wollen, müssen sie woanders hingehen. Wir haben eine Schlacht
geschlagen, um unseren traditionsreichen Bezirksverein zu retten. Wir haben
Opfer gebracht. Aber jetzt, nach diesem tollen Erfolg, wo die Eigenständigkeit
der Eintracht Floridsdorf für die nächste Zeit hoffentlich gesichert ist, muss
wieder Ruhe einkehren. Es ist doch nicht zu viel verlangt, wenn die
Herrschaften ein bisschen kultiviertes Benehmen an den Tag legen, oder?«
Leopold wunderte gar nichts mehr. Er brachte eine Melange zu
Frau Jahn ans Fenster.
»Schach«, hörte man Herrn Heller brummen.
»Wir haben um den Sieg gekämpft, Leopold, das wissen Sie
genauso gut wie ich«, redete Frau Heller munter weiter. »Wir sind natürlich
auch bereit, dem Verein finanziell unter die Arme zu greifen, wie wir das
versprochen haben. Aber wenn einige Anhänger jetzt öfter zu uns als Gäste
kommen, sollten sie sich rasch an die herrschenden Sitten und Gebräuche
gewöhnen. Wir können unserem Stammpublikum diese ständigen lautstarken
Diskussionen einfach nicht zumuten. Einige waren froh, dass sie während des
Spieles in Ruhe hierherkommen konnten. Und Musik vom Lautsprecher in einem
Kaffeehaus? Seien Sie ehrlich, Leopold: Das passt nicht.«
›Wie wahr‹, dachte Leopold. Schön langsam schien seine Chefin
ihren Hausverstand wiederzugewinnen. Er holte die ersten mittäglichen Portionen
Wiener Schnitzel mit gemischtem Salat und brachte sie mit einem »Mahlzeit,
schönen Sonntag zu wünschen« an die Tische.
Alles nahm wieder seinen gewohnten Gang. Nur der kleine,
stämmige, nach Schweiß riechende Mann im blauen Overall, der plötzlich vor der
Theke stand, passte nicht ins sonntägliche Bild.
Frau Heller nahm Leopold zur Seite. »Sehen Sie, was ich
meine?«, raunte sie ihm
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