Verschwörungsmelange
Anblick einer Leiche lethargisch machte, konnte er überhaupt nicht verstehen.
»Vielleicht ist es meine slawische Seele«, sinnierte Juricek
weiter. »Oft frage ich mich, was in diesen Toten vorgegangen ist, kurz bevor
sie gestorben sind, was ihre letzten Gedanken waren. Ich möchte mit ihnen
reden, aber ich kann es nicht mehr. Der Mund bleibt ihnen für immer
verschlossen. Man möchte sehen, wie es war, als sie gelacht haben, aber ihr
Gesicht ist nur noch eine Fratze. Ich kann sie nicht mehr kennenlernen. Sie
sind von uns gegangen, ehe ich etwas von ihnen gewusst habe.«
»Erstens: Der Ehrentraut war sicher kein umwerfender
Gesprächspartner, soviel ich weiß. Zweitens: Was glaubst du, wie viele
Scheintote bei uns im Kaffeehaus herumlaufen. Da ist es auch nicht immer
leicht, bei Laune zu bleiben«, versuchte Leopold, seinen Freund aufzuheitern.
»Ich denke jetzt eben öfter nach«, sinnierte Juricek.
»Wahrscheinlich sollte ich das nicht. Einfach ran an die Sache wie Bollek, das
hält einen vielleicht länger frisch.«
Sie hatten sich schon ein wenig von den anderen entfernt. Man
hörte Bollek fortwährend laute Befehle in sein Handy plärren. Sonst war es
seltsam ruhig in dieser lauen Frühlingsnacht.
»So, Leopold, jetzt erzählst du mir, was in dem Koffer vom
Ehrentraut drinnen ist«, sagte Juricek plötzlich wieder mit der gewohnten
Bestimmtheit und Sicherheit. »Irgendwas von Bedeutung?«
»Aber Richard, du tust ja geradezu so, als ob …«
»Als ob du bereits einen Blick hineingeworfen hättest,
richtig. Und das hast du doch, oder? So ein Schloss ist ja eine Kleinigkeit für
dich.«
»Sag einmal, wofür hältst du mich?«
»Ich hab’s dir schon vorhin gesagt: Für einen, der seine Nase
überall hineinsteckt, auch wenn’s ihn nichts angeht. Für einen liebenswerten,
aber oft sehr sturen Menschen. Für jemanden, dem man jederzeit wegen
Unterschlagung von Beweismaterial gehörige Schwierigkeiten machen könnte. Also
rede jetzt bitte, oder du wirst mich von einer anderen Seite kennenlernen.«
Leopold versuchte, möglichst belanglos zu wirken. »Könnte ja
sein, dass der Koffer auf einmal zufällig aufgegangen ist, und ich gar nicht
anders konnte«, meinte er.
»Könnte sein«, sagte Juricek. »Wenn du trotzdem die Nummer
von dem Schloss wüsstest, wäre uns sehr geholfen. Vielleicht kriegt Bollek doch
den Koffer in die Hände, und der könnte in seiner Ungeduld leider eine richtige
Zerstörungswut bekommen und ihn kaputtmachen.«
»Das wär schade«, überlegte Leopold. »Da könntet ihr ihn
nicht einmal mehr auf dem Polizeiflohmarkt verkaufen. Ich glaube, 1913 war’s.«
»Na also! Und der Inhalt? Irgendwas Verdächtiges?«
»Nichts Besonderes. Dokumente, Akten, Rechnungen,
wahrscheinlich großteils die Eintracht Floridsdorf betreffend. Die müsst ihr
euch anschauen, bei Paragraphen und Finanzen kenne ich mich zuwenig aus. Aber
…«
»Ja?« Juricek wurde hellhörig.
»Es gibt da auch ein Kuvert mit Nacktfotos von einigen Buben
aus dem Nachwuchs. Das heißt, eigentlich sind es Vergrößerungen von den Teilen,
die man sonst eben nicht so herzeigt. Lauter Schwanzerln und Popscherln.«
»Pfui Teufel«, schimpfte Juricek. »Die Sache fängt aber gut
an.«
*
Leopold saß wieder auf seinem Rad und steuerte
es durch die Nacht, ganz in Gedanken versunken. Denn er stellte sich bereits
einige wichtige Fragen.
Erste und wichtigste Frage: Warum war Ehrentraut auf die
Böschung hinter dem Tor gegangen, und wie war er dort auf seinen Mörder
getroffen? Hatte er sich von den anderen entfernt und hatte ihm jemand
nachgestellt, einer von den aufgebrachten und nicht mehr nüchternen
Eintracht-Freunden? Oder war er mit jemand anderem zusammen hierher gekommen,
unter Umständen im Verlauf einer heftigen Diskussion, bei der sein Gegner dann
das Messer gezückt hatte? Man musste herausfinden, ob jemand auf dem Platz
etwas bemerkt hatte.
Aus der Kantine war ein Schneidemesser entwendet worden. Wenn
es sich um die Tatwaffe handelte, war es sehr wahrscheinlich, dass der Mord
geplant gewesen war, der Täter Ehrentraut also in der Dunkelheit aufgelauert
hatte. Dazu musste er aber gewusst haben, wo er auf ihn treffen würde. Hatte
sich Ehrentraut gar mit jemandem verabredet? Und war der Mörder durch das Loch
im Zaun gekommen? Dann konnte es jemand sein, der sich zu diesem Zeitpunkt noch
auf dem Fußballplatz befunden hatte, jemand, der vorgetäuscht hatte,
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