Verschwörungsmelange
bereits
gegangen zu sein, oder jemand, der von den anderen überhaupt nicht wahrgenommen
worden war.
Zweite Frage: Wer hatte ein Motiv, Ehrentraut umzubringen? Da
gab es sicher einige, zunächst die wütenden Eintracht-Anhänger und
Fusionsgegner, die mit ihren Protesten über das Ziel hinausgeschossen waren.
Aber war das Veranlassung genug, einen Mord zu begehen? Gab es jetzt nicht auch
innerhalb der Eintracht-Funktionärsriege Querelen und kleine Machtspielchen?
War Ehrentraut nicht auch dort vielen im Weg gewesen? Das Verhältnis zu
Sonnleitner war, wenn man den vielen Gerüchten Glauben schenken konnte, von
tiefem Misstrauen geprägt gewesen. Von Joe Brown wusste man nicht viel, außer
dass er mächtig war und sich nicht dreinreden ließ. Ehrentrauts aalglatte,
selbstherrliche Art konnte eigentlich auf jeden provokant gewirkt haben, nicht
zuletzt auf den unberechenbaren Kantinenwirt Bertl Posch, dessen Vertrauen
Ehrentraut missbraucht hatte, und der nicht mehr als einen Handgriff gebraucht
hätte, um an das Messer zu kommen.
Trotzdem durfte man nicht die Fotos vergessen, die
Fotos von heranwachsenden Nackedeis, das heißt, die Ausschnitte ihrer intimsten
Körperstellen. Hatte Ehrentraut sie wirklich selbst gemacht, und wenn ja,
weshalb trug er sie dann mit sich herum? War er ein kleiner Perverser gewesen,
einer der zahlreichen Pädophilen, von denen man in letzter Zeit so viel las?
Hatte er etwa einen der abgebildeten jungen Spieler hinter das Tor gelockt,
damit er …? Und der hatte sich dann nicht anders zu helfen gewusst, als mit dem
Messer …? Nicht auszudenken!
Dritte Frage: Konnte man irgendjemanden von vorneherein als
Täter ausschließen? Aufgrund der schrägen Böschung konnte man wahrscheinlich
vom Einstichkanal her nicht unbedingt auf die Körpergröße des Mörders
schließen. Er bzw. sie konnte neben, aber auch ober- oder unterhalb von
Ehrentraut gestanden sein. Er bzw. sie hatte zweimal zugestochen, außerdem von
hinten, also konnte es sich Leopolds Meinung nach auch um eine schwächlichere
Person oder eine Frau handeln. Er wusste, dass vor Wut rasende Frauen gern zum
Messer griffen. Aber wenn eine Frau, dann welche?
Leopold fiel ein, dass er Bettina Ehrentraut von früher sehr
gut kannte. Sie hatte, ehe sie sich mit Wolfgang verehelichte, als Friseuse in
dem kleinen Salon gegenüber dem Café Heller gearbeitet, sich regelmäßig bei
Leopold den Kaffee geholt und war manchmal nach der Arbeit auf ein Getränk
geblieben und hatte mit ihm getratscht. Später hatte sie sich lieber selbst von
anderen schön machen lassen und war Ehrentraut auf dem Geldbeutel gesessen.
Wenn er Glück hatte, wusste jemand im Frisiersalon noch Bettinas Telefonnummer.
Dann konnte er sie gleich in der Früh anrufen, sie mit irgendeinem Schmäh ins
Kaffeehaus lotsen und ein wenig ausfratscheln. Das hieß nicht, dass er sie
gleich zu den Verdächtigen zählte. Aber wenn es noch andere Frauen in
Ehrentrauts Leben gegeben hatte, dann war möglich, dass sie es wusste.
So tief in Gedanken versunken trat Leopold bei
etwas auffrischendem Wind in die Pedale. Er kam gerade bei seinem Stammheurigen
›Zum Fuhrmann‹ in Groß Jedlersdorf vorbei, der freilich schon geschlossen hatte,
und dachte mit einem Mal wieder an seinen Freund Thomas Korber, der ja ganz in
der Nähe wohnte. Daraus ergab sich automatisch die Frage vier: Warum hatte er
Thomas den ganzen Abend über nicht gesehen? Er war doch Eintracht-Mitglied und
hatte von der Versammlung gewusst.
In Korbers Fenstern brannte noch Licht. In der Hoffnung, ihn
um diese Uhrzeit nicht bei irgendetwas, womöglich bei einem kleinen
Tête-à-tête, zu stören, stellte Leopold sein Rad ab und läutete an.
»Was machst du denn so spät hier? Ist etwas passiert?«,
fragte Korber überrascht, als er ihn zur Tür hereinließ.
»Das kann man wohl sagen.« Ohne große Umschweife ging Leopold
herein und erzählte von den Ereignissen des Abends.
»Eine schöne Bescherung«, resümierte Korber. »Jetzt wird’s
bei der Eintracht erst recht drunter und drüber gehen.«
»Das ist im Augenblick zweitrangig. Es ist immerhin ein Mord
geschehen, und den gilt es aufzuklären.«
»Sag bloß nicht, dass du gekommen bist, um mich wieder in
eine solche Sache hineinzuziehen«, protestierte Korber. »Ich ahne es: Du
willst, dass ich den Beobachter auf dem Eintracht-Platz spiele, allen möglichen
Leuten nachspioniere und mich dabei zum Hanswurst
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