Verschwunden
Novembertag, Nebel hing über den Wiesen. Obwohl Sonntag war, war der Park fast leer, sie sah kaum Hunde, die herumtollten, Kinder, die spielten.
Sie musste wieder an Jeremy denken.
„Nun erzähl schon, was liegt dir auf dem Herzen?“
Sie sah Michael fragend an.
„Ich sehe doch, dass du besorgt bist. Dafür kenne ich dich zu gut.“
Sollte sie Michael von Jeremy erzählen? Würde er ihr auch sagen, sie sollte sich da raushalten? Vor Eva am gestrigen Abend mochte sie schon gar nichts mehr erwähnen.
„ Also gut, es gibt einen kleinen Jungen in meiner Klasse, wegen dem ich mir Gedanken mache.“
Da Michael nichts dazu sagte, sondern ihr einfach nur zuhören zu wollen schien, sprach sie weiter. „Er wird von seinen Eltern, oder zumindest von seinem Dad misshandelt. Eigentlich ist es gar nicht sein richtiger Dad, deshalb scheint er ihn ja auch so zu verabscheuen. Auf jeden Fall weist dieser kleine Junge ein merkwürdiges Verhalten auf und zahlreiche Verletzungen.“
„ Wende dich am besten ans Jugendamt“, schlug Michael vor.
„Das habe ich bereits getan. Doch die wollen einfach nichts tun. Sie waren bei dem Jungen zu Hause und haben angeblich nichts Auffälliges feststellen können.“
„Bist du denn sicher, dass es wirklich so schlimm ist? Dass es der Vater ist? Vielleicht verletzt sich der Junge auch nur öfter mal beim Spielen oder wurde von anderen Kindern verprügelt oder sonst was.“
„ Michael, der Kleine hat Brandwunden an den Armen, die vom Zigarettenausdrücken kommen.“
„Oh Scheiße! Das ist hammerhart! Das ist doch aber deine dritte Erste Klasse. Hattest du zuvor noch niemals so einen Fall? Vergleichsweise?“
Lane schüttelte den Kopf.
„Und das Jugendamt will nichts tun?“
„Nein. Ich war selbst schon bei der Familie zu Hause. Der Vater hat mich davongejagt und mir gedroht!“
Jetzt war Michael empört. „Das soll der noch einmal wagen! Wenn das noch mal passiert, sag mir sofort Bescheid, dann kriegt er es aber mit mir zu tun!“
Lane musste lächeln. Das war wirklich süß von Michael.
„ Der Kerl ist zwanzig Zentimeter größer als du und hat Tattoos. Mit dem solltest du dich lieber nicht anlegen.“
„Für dich nehme ich es sogar mit einem Sumo-Ringer auf, Laney.“
Einen Moment lang fehlten ihr die Worte. „Danke, Michael. Vielleicht werde ich da eines Tages drauf zurückkommen.“
Sie spazierten noch eine Weile und dann gingen sie getrennte Wege.
Michael. Er war immer noch zum Dahinschmelzen. Gut aussehend, blaue Augen, volles braunes Haar, ein süßer Knackarsch, den Hang zum Fremdgehen … das war Michael. Lane musste aufpassen, dass sie sich nicht aufs Neue in ihn verliebte.
9
„ Na, dann zeigt mir mal, was ihr alle Schönes mitgebracht habt“, sagte Lane am nächsten Morgen zu ihrer Klasse.
Ruby hob stolz ihre blonde Barbie in die Luft, Dennis zeigte sein ferngesteuertes Auto, Marylou hatte ihren Elefanten mitgebracht und Samantha hatte eine ganze Armee Polly Pockets auf ihrem Tisch ausgebreitet.
„ Jeremy, was hast du heute dabei?“
Der Kleine hielt ein Plüschtier fest umschlungen. „Ich hab meinen Hund dabei“, sagte er so leise, dass man ihn kaum hören konnte.
„Oh, darf ich ihn mal sehen?“
Jeremy hielt seinen schwarz-braunen Kuschelhund kurz in die Höhe, sodass alle ihn sehen konnten. Er sah schon ziemlich abgenutzt aus, als ob schon viel mit ihm gekuschelt worden war.
„Möchtest du uns deinen Hund auch vorstellen? Wie heißt er?“, fragte Lane.
„Bobo“, sagte Jeremy stolz und strahlte.
„ Und kann der irgendwas Besonderes?“, fragte Dennis mit seinem coolen, teuren Auto.
Lane überlegte schon, ob es richtig gewesen war, alle Kinder aufzufordern, ihr Lieblingsspielzeug mitzubringen. Nicht, dass jetzt Neid unter ihnen entstand.
„Ja, er beschützt mich. Er ist ein Beschützerhund.“
„Cool“, sagte Dennis.
Lane lächelte. Sie hatte so etwas erwartet wie „Geht doch gar nicht, der ist doch nicht mal echt!“, aber Jeremy hatte es so überzeugend gesagt, dass jeder ihm glaubte.
Nachdem sie alle aufschreiben sollten, warum gerade dieses Spielzeug, das sie mitgebracht hatten, ihnen am liebsten war, natürlich nur in kleinen Stichworten, denn sie waren ja Erstklässler, erzählte Lane ihnen die gute Neuigkeit.
„Also, Kinder, ich habe noch eine ganz tolle Überraschung für euch. Nächste Woche fahren wir ins Aquarium.“
Alle Kinder jubelten.
„Dazu brauche ich aber eine Einverständniserklärung eurer Eltern. Ich gebe euch jetzt einen
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