Verschwunden
Zettel mit und den gebt ihr mir so schnell wie möglich unterschrieben wieder zurück, ja?“
Sie ließ Samantha die Zettel verteilen. Dann entließ sie alle in die Pause.
***
Süß, der kleine Jeremy, dachte Lane, als sie zurück in die Klasse kam. Sie hatte ihn mit seinem Bobo im Arm auf dem Pausenhof gesehen. Er hatte zu ihm geredet, als sei er echt. Wahrscheinlich hatte er ihm schon durch harte Zeiten geholfen. Er beschütze ihn, hatte Jeremy gesagt.
Etwas lag auf Lanes Lehrerpult. Zuerst nahm sie es gar nicht richtig war, es war nur ein Umschlag. Doch dann überkam sie wieder dieses schaurige Gefühl, und sie nahm ihn und öffnete ihn.
Darin war nur ein einzelnes Blatt Papier, auf dem, wie sie entdeckte, als sie es auffaltete, nur ein einziger Satz zu lesen war:
WENN IHNEN IHR LEBEN ETWAS WERT IST, SOLLTEN SIE SICH NICHT IN ANDERER LEUTE ANGELEGENHEITEN EINMISCHEN!
Lane erschauderte. Schon wieder eine Drohung! Und diesmal eine ganz offensichtliche. Jetzt hatte sie endlich einen Beweis, einen, der zeigte, dass sie sich das Ganze doch nicht nur eingebildet hatte. Und jetzt hatte sie endlich auch was Handfestes, mit dem sie etwas unternehmen konnte.
***
Selbst nachmittags während des Einkaufs im Supermarkt überlegte Lane noch, wie der Umschlag auf ihr Lehrerpult gekommen sein könnte. War Kyle etwa höchstpersönlich in der Schule erschienen und hatte ihn ihr unbemerkt dort hingelegt?
Das konnte sie sich kaum vorstellen. Der schien doch nicht einmal den Weg zur Schule zu kennen, zumindest hatte er Jeremy noch nie gebracht oder abgeholt, er war auch weder zum Elternabend noch zum Elternsprechtag gekommen. Den allerersten Elternabend hatte seine Frau besucht, danach war keiner von ihnen mehr zu irgendeinem Event gekommen, nicht einmal zum Halloween-Fest.
Seit zwei Wochen machten sie nachmittags Erntedank-Basteln, wobei sie hübsche Dinge wie Truthahn-Fensterbilder oder Pilgerkerzen bastelten, die sie nächste Woche zu Thanksgiving im Altersheim verteilen würden.
Es hatten sich einige Eltern beteiligt, hatten sich dafür eine Stunde frei genommen und mit ihrem Kind gebastelt. Doch es waren leider viel weniger als gehofft, weniger als im letzten Jahr. Und von Jeremys Eltern war natürlich keiner erschienen.
Viel möglicher war es, dass Kyle Jeremy den Auftrag gegeben hatte, diesen Umschlag dort auf dem Pult zu platzieren.
Sie wollte den Kleinen nicht darauf ansprechen, damit er nicht dachte, er habe etwas falsch gemacht. Sie konnte sehen, dass er Angst vor Kyle hatte, wann immer sie seinen Namen erwähnte.
***
Nach der Schule rief Lane erneut das Jugendamt an und erzählte von den Drohungen – von den Anrufen, der nächtlichen Verfolgung und der Notiz auf ihrem Schreibtisch.
„ Mrs. Downey, dafür sind wir wirklich nicht zuständig. Da müssen Sie sich an die Polizei wenden.“
„Aber Sie bearbeiten doch diesen Fall. Könnten Sie Mr. Reed nicht mal verwarnen oder so? Ihm Ihrerseits eine Warnung schicken, dass, wenn er das nicht lässt, er verhaftet wird oder so?“
„ Das kann ich nicht tun, das ist überhaupt nicht mein Zuständigkeitsgebiet“, sagte Mrs. Anderson.
Lane bezweifelte, dass die Dame ihr glaubte. Die Frau hatte sie doch seit der ersten Minuten als durchgeknallt abgestempelt. Als habe sie Verfolgungswahn.
Und ja, sie hatte Verfolgungswahn, aber doch aus gutem Grund. Kyle Reed drohte ihr mit dem Tod, oder nicht?
„ Ich kann das alles nicht fassen, Sie wollen mir ja gar nicht helfen. Mir nicht und Jeremy auch nicht. Unglaublich ist das, was ist denn nur los mit diesem Land?“
Sie hörte Mrs. Anderson auspusten. „Okay, okay, Miss Downey. Ich kann ja mal bei den Reeds anrufen und ein bisschen Druck machen.“
„Dankeschön!“, sagte Lane. „Viel Erfolg!“
Sie verstaute ihr Handy wieder in ihrer Handtasche und ging zurück in den Supermarkt, weil sie die Hälfte vergessen hatte.
Hoffentlich geht das Ganze nicht nach hinten los, dachte sie auf dem Weg. Nicht, dass er sich noch mehr gestört von mir fühlt und mir mit noch schlimmeren Sachen kommt.
Ich muss beim nächsten Mal dringend Handschuhe mitnehmen, es wird kalt, dachte sie, als sie endlich wieder im Supermarkt war, das zweite Mal an diesem Nachmittag.
Sie rieb sich ihre eisigen Hände und nahm sich einen Korb.
Schokolade, Chips und Eis mussten jetzt her, davon hatte sie so gut wie nichts mehr im Haus. Die letzten Wochen waren nervenaufreibend gewesen, sie hatte das gute Zeug nur so in sich hineingestopft. Zum Glück
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