Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
war.
Lili hatte sich Bálint noch nicht wieder zugewandt, als ein befrackter Arm zwischen ihnen zum Tisch vorstieß und eine Stimme ertönte.
»Pardon …«
Sie blickten hin. Es war Slawata, eben damit beschäftigt, sich ein Gebäck in den Mund zu schieben.
»Oh, grüß dich!«, sagte er, nachdem er ein Stück Krapfen hinuntergeschluckt und mit seinen kurzsichtigen Augen Abády erkannt hatte. »Küss die Hand, Comtesse Lili«, fügte er an, um sich vor dem Mädchen wiederholt zu verbeugen. »Verurteilen Sie mich nicht, dass ich so gefräßig bin«, bat Slawata, während er nach einem zweiten Stück griff, »aber Seine Hoheit ist erst jetzt abgereist.«
Er meinte natürlich Franz Ferdinand, der einzig wegen des spanischen Königs nach Budapest gekommen und demonstrativ gleich wieder abgereist war, sobald sich der Gast verabschiedet hatte.
»Viele Telegramme und Berichte. Ich fand nicht einmal Zeit zum Abendessen.«
»Schwerer Dienst!«, sagte Bálint leicht spöttisch. 66
»Nun ja, aber interessant. Besonders jetzt. Besonders heute, wo wir endlich einmal erfolgreich sind. Heute, am 3. Oktober.« 67
Abády bemerkte erst jetzt Slawatas ungewöhnliche Heiterkeit. Er strahlte eine erregte und nervöse gute Laune aus. Sein pralles Gesicht mit der Stupsnase verriet starke Spannung, seine mächtige Brille schien Blitze zu schleudern.
»Was war denn heute der so besonders große Erfolg?«
Der Botschaftsrat hatte offenkundig auf diese Frage gewartet. Mit einer leicht gespielten Pose trat er einen Schritt zurück, und seiner weißen Weste entnahm er bedächtig langsam seine Uhr.
»Fünf vor zwölf. In Paris ist es fünf vor elf, jetzt beginnt man, den Leitartikel des Temps zu setzen. Hernach wird es die ganze Welt wissen, sodass auch ich es erzählen kann: Khevenhüller, unser Botschafter dort, hat den Präsidenten der Republik über die Annexion Bosniens unterrichtet. Das ist heute geschehen, wir haben es endlich geschafft!«
Bálint schnürte etwas die Kehle zu. Augenblicklich erwachte in ihm die Erinnerung daran, was Slawata letztes Jahr in Jablánka über die Notwendigkeit des Kriegs vorgetragen hatte. Drüben ertönte nun wieder die Musik, und der Zug von Tänzern, die vom Buffettisch hinausströmten, trennte ihn von Slawata. Jemand hatte von seiner Seite auch Lili entführt. So vergingen einige Minuten, einige sorgenvolle Minuten, bis er die Frage stellen konnte. »Wird das nicht böse enden? War das diplomatisch vorbereitet?«
Der Berliner Kongress hatte Österreich-Ungarn ermächtigt, Bosnien zu besetzen. Keine der teilnehmenden Großmächte schrieb eine zeitliche Begrenzung vor – weder damals noch seither. Nie war die Rede davon, dass die Monarchie das Gebiet je wieder der Türkei übergeben würde. Es stand vielmehr fest, dass nur schon diese Idee in ganz Europa Proteste ausgelöst hätte. Die Souveränität des Osmanischen Reichs in Bosnien, vom Kongress aufrechterhalten, war also nomineller Art.
Bestimmt worden war aber diese Form durch einen internationalen Beschluss, und zu ihrer Änderung bedurfte es der Zustimmung der Signatarmächte. Wenn der Ballhausplatz diese Billigung nicht eingeholt hatte, dann – obwohl die Annexion an der Lage grundsätzlich nichts änderte – war die Formverletzung nicht zu leugnen. Das aber ließ sich gegen die Monarchie nur allzu gut benutzen und mochte sogar zu unabsehbaren Verwicklungen führen. Darauf zielte Bálints Frage.
»I-wo! Sowas ist doch ganz unmöglich!« 68 , antwortete Slawata leichthin. Doch als er Bálints besorgte Miene sah, belud er zuerst seinen Teller tüchtig mit Pastete und Gänseleber und bat dann den anderen zum Kanapee nebenan. »Komm, alter Freund, ich werde dir’s erklären. So ganz leichtsinnig sind wir eben auch nicht!« 69
Er sprach sehr offen und umständlich. Die diplomatische Seite der Frage erläuterte er folgendermaßen: Fragt man die Signatarmächte im Voraus, so führt das nirgends hin. Langfädige Verhandlungen wären in Gang gekommen – mit höchst ungewissem Ergebnis. Denn zwei Länder sind da unmittelbar interessiert: Russland, gegen dessen Politik schon seinerzeit der Beschluss zur Besetzung Bosniens getroffen wurde, sowie die Türkei. Im Fall der Letztgenannten kommt man nur mit einem Fait accompli voran, denn die neue türkische Regierung kann ihre Machtausübung schwerlich damit anfangen, dass sie auf ein türkisches Territorium aus freien Stücken verzichtet. Ist die Annexion einmal vollzogen, dann steht es ihr
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