Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
das Gefühl, als kämpfe er eben mit dem Thema, das er darlegen wolle, als kämen ihm gerade jetzt die Gedanken, welche die Lösung bringen. Seine Sätze bildeten sich schwerfällig, manchmal stotternd, beinahe als ob er im Geist tastend nach den Ausdrücken suchte. Dieses Ringen ging fast immer dem wichtigsten Satz voran, dem entscheidenden Wort, bis es dann glänzend genau und treffend erschien und alle mit sich riss, zumal die Zuhörer selber an seiner Suche unwillkürlich teilgenommen hatten. Nicht dass er absichtlich so abgehackt sprach, vielmehr hatte sich diese Sprechtechnik bei ihm ohne sein Hinzutun so gebildet, eine Behinderung war auf solche Art in der zwei Jahrzehnte dauernden parlamentarischen Praxis zu einem Vorzug geworden.
Andrássy ließ also hier im Korridor die Öffentlichkeit wissen, dass sein Vorschlag die Pluralität zur Grundlage habe. Ferner, dass diese Lösung für ihn die conditio sine qua non bedeute. Der Vorschlag, sagte er, liege noch nicht ganz fertig vor, die Einzelheiten habe man noch nicht voll ausgearbeitet, er sei bereit, sie allenfalls zu ändern, sich gut begründeten Argumenten zu beugen. Er werde ihn deshalb auch noch eine geraume Weile nicht veröffentlichen. Die Pluralität aber bilde das Rückgrat des Vorschlags, und er, Andrássy, werde damit stehen oder fallen.
Dieses Anliegen also hatte Andrássy betonen wollen, deshalb war er hergekommen. Man möge dies im Korridor zur Kenntnis nehmen. Es lag auf der Hand, dass sein Rücktritt die Auflösung der Koalition mit sich brächte mitsamt den oben angedeuteten Konsequenzen. Andrássy zählte gewiss darauf, dass seine Entschiedenheit der mottenden Pressekampagne, die einzelne 48-er vor allem um Holló gegen die Pluralität führten, Einhalt gebieten würde. Hierin täuschte er sich nicht. Holló und seine Anhänger bliesen zum Rückzug. Es folgten noch einige im Ton gedämpfte Artikel, und dann veröffentlichten sie über den Gegenstand einstweilen nichts mehr.
Innerhalb der Koalition herrschte also für eine Weile Frieden. Doch bei den Massen draußen, die von Kristóffy oder den Sozialisten gesteuert wurden, kam es zu einem allgemeinen Ausbruch der Empörung. Diese Kreise hatten Andrássys Pläne wahrscheinlich schon gekannt und nur darauf gewartet, dass er sie darlegte. Bestimmt hielten sie den Pluralitäts-Vorschlag in der Hand, jemand musste ihn aus dem heiligsten, innersten Zentrum des Ministeriums entwendet und dem sozialistischen Népszava zugespielt haben. Das Blatt veröffentlichte nun den Entwurf über mehrere Tage. Es brachte ihn Wort für Wort mitsamt den kleinsten Einzelheiten, womit es nicht nur die Leidenschaften der am Wahlrecht unmittelbar Interessierten schürte, sondern Andrássy auch der Möglichkeit zum politischen Tauschgeschäft beraubte. Stürmische Volksversammlungen folgten, Kundgebungen auf den Straßen der Hauptstadt, wo aus der Menge bald auch schon Revolverschüsse zu hören waren.
So präsentierte sich die politische Atmosphäre Ungarns, als sich das erfüllte, was die englischen Zeitungen vorausgesagt hatten. Die Monarchie gab die Annexion Bosniens bekannt.
3. Oktober. Herrscher gingen in Buda ein und aus. Kaum eine Woche war es her, dass der Bulgare Ferdinand hier geweilt hatte, und an diesem Abend nun reiste nach dreitägigem Aufenthalt der spanische König ab.
Sie hatten Franz Joseph besucht. König Alfons und seine Gattin waren sehr gefeiert worden, Soireen und Bälle fanden zu ihren Ehren statt. Wegen des spanischen Verwandten verbrachte diesmal sogar Franz Ferdinand einige Tage in Pest, wohnte aber demonstrativ in seinem Salonwagen. Es wimmelte von Fremden, Diplomaten waren zur Visite des spanischen Königs aus Wien hergereist, ältere österreichische Herren hatten sich eingestellt, um an den Verhandlungen der Delegationen 65 teilzunehmen, die diesmal hier tagten, und auch junge Leute fanden sich ein als Begleiter des Hofs oder wegen der Rennsaison, die jetzt eröffnet wurde. Es ging also im Leben der ungarischen Hauptstadt in diesem Herbst ungewöhnlich hoch her.
Ein Glück, dass wunderbares, fast sommerliches Wetter herrschte. Deshalb und wegen der vielen Fremden war der Park-Club gesellschaftlicher Mittelpunkt. Hier gaben die einen und die anderen einander festliche Diners, hier fanden die großen Bälle statt. Auch heute wurde getanzt, wie jeden Abend, und zwar nicht im Großen Saal, der nur als »Tanzbude« galt, sondern im inneren Restaurant im Erdgeschoss. Späte Dinergäste
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