Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
Angelegenheiten im Vordergrund, da an der Grenze Rumeliens mehrere Armee-Einheiten zusammengezogen wurden. Die Türkei beantwortete dies mit der Mobilmachung.
Der schlimmste Sturm tobte in Belgrad. Freiwilligenlegionen wurden angeworben, Tag für Tag fanden kriegerische Kundgebungen statt, die Menge attackierte und plünderte österreichisch-ungarische Geschäfte. Kriegsvorbereitungen kamen auch in Montenegro in Gang; Kanonen wurden auf den Lovćen hinaufgeschleppt, worauf die Monarchie ihre Panzerschiffe auf der Donau nach Zimony schickte, die Reservisten der zwei Armeekorps im Südwesten einberufen ließ und die Ausfuhr von Waffen in die mit Bosnien benachbarten Länder untersagte.
Inzwischen setzten sich auch die Diplomaten der Gegenseite in Bewegung. Aufgeschreckt durch die erste Nachricht, eilte Iswolskij gleich nach Paris. Um seinen Fehler gutzumachen, da er doch die Annexion grundsätzlich gebilligt hatte, schlug er jetzt einen neuen Kongress vor. Dieser sollte offenkundig dazu dienen, den Sandschak Serbien und Montenegro zu vermachen und dem Erstgenannten den Weg zur Adria zu öffnen. Um die Monatsmitte einigte er sich mit London über die Einberufung einer Vorkonferenz, und Ende Oktober wurde Georg, der serbische Thronfolger und Anführer der Kriegspartei, vom Zaren feierlich empfangen. In diesem Augenblick schien ein Krieg – wie in den folgenden Monaten noch einige Male – in der Sicht der Eingeweihten beinahe unvermeidlich.
Das ungarische Publikum ahnte von all dem nicht das Geringste. Zwar bekam es die Geschehnisse in wortkargen Berichten der Blätter lückenlos zu lesen. Es begriff aber die Bedeutung der Nachrichten nicht. Dies umso weniger, als sich die ungarische Presse sehr klug verhielt und jede Panikmache vermied. Im Übrigen ging dem damaligen Publikum der außenpolitische Spürsinn vollkommen ab. Die Leute lasen die Auslandsnachrichten, als liefe vor ihnen ein noch nicht einmal besonders interessanter Film ab; als wäre alles eigentlich unwirklich, als spielte alles – wie auf der Leinwand im Kino – auf einer einzigen Ebene. Die Thronrede Franz Josephs vor den Delegationen, Aehrenthals Exposé, die gedämpft wiedergegebenen Telegramme aus London, Belgrad und Sankt Petersburg interessierten kaum. Man blätterte in den Zeitungen weiter, die gerade zu der Zeit über den Tod des Journalisten und Abgeordneten Aladár Zboray während mehrerer Tage zumindest so viel schrieben wie über die bosnische Frage. Zboray verdiente das auch. Er war ein überaus liebenswerter Mann mit Doppelkinn und als solcher in der Kammer ein gemütlicher Zwischenrufer gewesen, den jedermann gemocht hatte.
Die Presse bemühte sich womöglich mit Absicht, dem verstorbenen Kollegen so breit die Ehre zu erweisen, dies wirkte wirklich beruhigend. Es gab aber auch anderes, das sich dazu eignete, das Publikum in Beschlag zu nehmen. Am Tag der Thronrede fand abends um neun Uhr abermals eine Kundgebung statt, erneut gab es Revolverschüsse, und die Demonstranten stießen diesmal schon bis zum Oktogon vor; erst hier gelang es, sie zurückzudrängen. Auch hierüber ließen sich Gespräche führen, noch mehr aber über Bosniens künftige Zugehörigkeit. Gleich fanden sich fachkundige Juristen, die hübsch nachwiesen, dass Bosnien gegenüber Ungarn unter dessen Anjou-Königen lehenspflichtig gewesen war, sodass es nun mit Kroatien vereinigt werden müsste sowie mit Dalmatien, das die Kroaten unentwegt zurückforderten. Und die gleichen Leute bemerkten nicht, dass sie dem gleichen Trialismus das Wort sprachen, gegen den sie sonst heftig zu protestieren pflegten. In den inneren Kreisen der Innenpolitik hielt indessen die Aufregung wegen der Fusionspläne der Parteien an, und in der Umgebung Hollós setzte man die Mär in die Welt, dass Andrássy mit den Sozialisten fraternisiere und dass die Demonstrationen deswegen stattfänden, weil er für das pluralistische Wahlrecht, seinen Vorschlag, auf solche Art Stimmung zu machen suche.
Nichts ist daran verwunderlich, dass sich die Menschen für solche Dinge interessierten, dass sie in ihrer Sicht eine ungleich wichtigere Rolle spielten als die Verwicklungen im Ausland. An Kriegsgefahr glaubte in dieser langen Friedensperiode ohnehin niemand. Es sind ja die alltäglichen, persönlichen, die nächstliegenden Fragen, welche die Leute in erster Linie etwas angehen. Das Publikum lebte seit vielen Jahren in dieser sich nach Juristenart gebärdenden, von ständigen Parteienkämpfen und Fehden
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