Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
frei, die Schuld auf das alte System des Sultanats abzuwälzen und zu erklären, sie selber liquidiere lediglich dessen Erbe. Die Monarchie gibt den Sandschak Novi Pasar zurück, das kann die Hohe Pforte folglich als Erfolg verbuchen. Übrig bleibt also Russland. In dieser Hinsicht waren die Dinge einigermaßen vorbereitet. Als Iswolskij unlängst im September in Buchlau auf dem Gut von Botschafter Berchtold weilte, brachte Aehrenthal ihm gegenüber die Annexion vor und nannte sie eine früher oder später notwendige Maßnahme. Denn der Sultan hat nun dem Osmanischen Reich eine Verfassung verliehen, und da müsste die bosnische Bevölkerung, sofern sie türkisch bliebe, Abgeordnete ins Parlament in Istanbul entsenden, was absurd wäre. Iswolskij widersprach nicht, was so viel bedeutet, dass er die Fakten zur Kenntnis nahm. Und selbst wenn kein Protokoll unterzeichnet wurde, was ja bei solchen vertraulichen Gesprächen nicht üblich ist, so erstellten gewiss beide Seiten ein »Pro memoria«. Der gute Iswolskij mag überrascht sein, dass die Annexion jetzt und ohne weitere Umstände vollzogen wird, aber er kann nicht behaupten, nichts davon gewusst zu haben. Und wenn die Dinge so stehen, dann vermögen England und Frankreich nichts zu tun. Balkanischer als die Russen können sie nicht sein.
Der Ballhausplatz hatte auch Berlin nicht im Voraus informiert. Denn wenn der eine Verbündete eingeweiht worden wäre, dann hätte man mit dem anderen, mit Italien, gleich verfahren müssen. Das aber tat man nicht aus Misstrauen, Rom würde die Nachricht an die Entente-Mächte weiterleiten.
»Und die guten Italiener hätten außerdem gleich irgendein Äquivalent verlangt«, sagte Slawata höhnisch. 70
»Aber der Grundvertrag des Dreibunds schreibt die gegenseitige Information vor. Demnach ist Italien jetzt dieser Pflicht enthoben!«, bemerkte Bálint.
»Umso besser! Umso besser!«, rief nun der andere. »Ich selber halte es gegen Aehrenthal mit Conrad und dem Militär: Am besten wäre es, wir könnten gegen Italien gleich vorgehen. Aehrenthal wird natürlich das Menschenmögliche unternehmen, um die Allianz wieder zu flicken.«
»Aber wir wollen mal sehen«, fuhr er fort, »wer stärker ist: Franz Joseph, der alte Herr, oder wir, Jung-Österreich!« 71
So begann die bosnische Annexionskrise und damit eine neue Epoche in Europas diplomatischer Geschichte. Indem Aehrenthal Europa – entgegen dem Berliner Vertrag und unter Verzicht auf vorangehende Verhandlungen – vor vollendete Tatsachen gestellt hatte, schuf er, ohne sich dessen bewusst zu sein, eine neue Schule. Gleichen Tags wie die Annexion wurde, wohl in Absprache mit dem Ballhausplatz, das selbständige bulgarische Königreich proklamiert, und Italien trat in die gleichen Fußstapfen, als es 1911 in Tripolis ohne Kriegserklärung die Türkei angriff, die ihm dafür keinerlei Grund gegeben hatte. Und ein Jahr später begann auf gleiche Weise der Balkankrieg. War die Verletzung internationalen Rechts im Falle Bosniens und selbst bei der Proklamierung der bulgarischen Selbständigkeit noch einzig formaler Art, sollten bald schon zynische Gewalttaten als Präzedenzfälle dienen und die moralische Schranke niederreißen, die bisher die Kraft des gegebenen Worts aufrechterhalten hatte. Die fatalste Handlung im Weltkrieg, der Angriff auf Belgien, bedeutete auf dieser Linie die letzte Station.
Die Annexion war notwendig, und wahrscheinlich hätte man sie anders nicht vollziehen können. Der Zwang zur Handlung ergab sich aus der Lage der Monarchie, wie sie das Schicksal gefügt hatte. Das Fatum, das Zwang und Bedrängnis von allen Seiten herbeiführen, kennen wir in dieser Form aus den griechischen Tragödien. Der ganze Besitzstand der Monarchie beruhte auf dem althergebrachten Recht und auf internationalen Verträgen, und nun sah sie sich gezwungen, das alte Recht zu missachten und die eigene Unterschrift zu verleugnen.
Dieser Wortbruch wurde zum Leitmotiv der gegen uns geführten Kampagne, die in der Weltpresse begann. London ging voran. Den härtesten Ton schlugen die britischen Blätter an. Bilder Franz Josephs und Franz Ferdinands erschienen mit einer gemeinsamen Legende: »Wortbrüchige«. Ein ungewöhnlicher Ton vonseiten der sonst so vornehmen Engländer.
Das erste Zeichen, dass Großbritannien sich nunmehr im Lager unserer Feinde befand.
In Istanbul boykottierte man die österreichische Industrie, aber für die Führung dort standen die bulgarischen
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