Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
Kilo wiegt sie nicht.«
»Selbstverständlich, bitte, wie sollte ich es nicht schaffen«, sagte der Hausknecht dienstfertig. Er ergriff die beiden Henkel der Kiste, lehnte sich unter dem Gewicht zurück und verschwand so mit kleinen Schritten in der Wohnung.
Boros läutete. Der Lift setzte sich langsam in Bewegung, er fuhr hinunter. Er knatterte einige Male, als er unten die Stockwerke passierte. Boros richtete sich auf. Sein schönes, blasses Gesicht zeigte keinerlei Veränderung. Das Licht der elektrischen Lampen glitt über seine Glatze hinweg.
Seiner Brieftasche entnahm er eine Phiole. Er leerte den Inhalt und warf das Glas weg. Nun beugte er sich vor, über die Höhlung. Mit voller Kraft ergriff er die Kiste, kippte sie in den Schlund, und sich daran klammernd stürzte er in die Tiefe. Männlich und mutig, unter genauer Vorspiegelung selbst der kleinsten Einzelheiten eines Unfalls, so starb Dr. Zsigmond Boros, Anwalt und Abgeordneter.
Bálint erfuhr vom Todesfall erst nach seiner Rückkehr aus den Zeitungen. Sie berichteten bereits über Boros’ Bestattung.
Als Erstes hatte ihn der Vorsitzende der Kammer in einer Sitzung des Abgeordnetenhauses mit gerührten Worten verabschiedet. Hernach zogen alle zum Friedhof. Es war eine gewaltige Trauerfeier. Jedermann, der in der Sphäre der Koalitionsparteien etwas galt, nahm daran teil. Ferngeblieben waren einzig jene Minister, die in Wien über militärpolitische Zugeständnisse und die Bankenfrage verhandelten. Auch der krank darniederliegende Kossuth fehlte.
Unmengen von Ansprachen. Die ersten Reden wurden in der Aufbahrungshalle gehalten – im Namen der Unabhängigkeitspartei, des Wahlkreises und des Handelsministeriums, wo er einige Wochen als Staatssekretär gewirkt hatte. Dann setzte sich der Zug in Gang, hinaus zum Ehrengrab, das ihm von der Hauptstadt gestiftet worden war. Seine Familie schritt hinter dem Sarg, die Witwe und zwei Söhne, der ältere selber schon Jurist; sie waren tags zuvor eingetroffen.
Dann kamen die Parteifreunde, unter ihnen auch diejenigen, die ihn in letzter Zeit wegen der Bankenfrage mit scheelen Augen betrachtet hatten. »Lasst uns angesichts des tragischen Todesfalls alles vergessen. An der Bahre des großen Toten müssen wir die Einheit und die Macht der Partei demonstrieren.« So hatte das Hauptmotiv schon in den früheren Reden gelautet, und dies wurde vor dem offenen Grab wiederholt. Und je mehr man dieses Thema variierte, umso mehr schwoll die Legende des Zsigmond Boros an. Allmählich nahm sie heroische Ausmaße an. Man verglich ihn mit Kinizsi 74 , mit Miklós Toldi und Dugovics 75 . Auch die Märtyrer von Arad 76 wurden bemüht. Das verhängnisvolle Unglück, das den ausgezeichneten Mann weggerafft hatte, wurde zu einem Schlag, der das ganze Land traf. Jedermann war im Glauben, jedermann wusste, dass er durch Zufall, aus Unachtsamkeit vom sechsten Stock hinuntergestürzt war.
Recht unlogisch verdrehte man aber in den Reden die Worte so, dass unter Anspielungen die Geschichte des nicht mehr ausgetragenen Duells zur Sprache kam, als sei Boros das Opfer einer gemeinen Kabale geworden, als habe sich eine Verbrecherbande gegen ihn verschworen und ihn meuchlings zur Strecke gebracht. »Welch schreckliches Geschick, der Tod hat ihn ereilt, bevor er seine Feinde hätte niederschlagen können!«
Es wurden wirklich wunderschöne Reden gehalten, da blieb kaum ein Auge trocken. Und einige schluchzten in der Menge, als eine Zigeunerkapelle zum Abschied sein Leiblied spielte: »Auch ich war einmal Kutscher einer schönen Frau.« Einige seiner anwesenden Freunde, die seine Weibergeschichten kannten, fanden den Vortrag dieses Lieds allerdings taktlos. Und in der Tat, es schien, als sei seine Frau vom Rand des Grabes ein wenig zurückgewichen. Doch das bemerkte kaum jemand.
Die Blätter der Koalitionsparteien berichteten über dies alles in vielen Spalten, sie publizierten lange, rühmende Nekrologe, in denen es von Ausdrücken wie »unbeugsamer Kämpfer«, »Streiter für das Recht« und »Held« sowie von preisenden Adjektiven wimmelte. Neben all dem verlor sich beinahe die Rede von Reichskanzler Bülow, der mitten in der Krise im Namen der Bündnistreue das Gewicht des deutschen Schwerts in die Waagschale geworfen hatte. Dabei beendete dieser Vorstoß die Verwicklung, welche die Annexion bewirkt hatte. Der serbische Kronprinz Georg verzichtete auf seinen Thronanspruch, und Belgrad gelobte, mit der Monarchie fortan ein
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